Peter Glaser: Zukunftsreich

Big Data: Schiffbruch im Datenozean

Am Sonntag, den 28. Januar 2007 verschwand der 63-jährige kalifornische Computerexperte Jim Gray. Das letzte Lebenszeichen war ein Mobiltelefongespräch, das er mit seiner Frau führte. Gray war mit seinem 12-Meter-Boot „Tenacious“ von San Francisco aus in Richtung auf die etwa 40 Kilometer westlich gelegenen Farallon Islands in See gestochen. Er wollte die Asche seiner Mutter ins Meer streuen.

Nachdem eine fünftägige Suchaktion der Küstenwache mit Booten und Flugzeugen über mehr als 340.000 Quadratkilometer Ozean nichts erbrachte, entschlossen sich Kollegen, Freunde und ehemalige Studenten des Vermissten dazu, die Suche auf eigene Faust fortzusetzen – die besten und klügsten Köpfe des Silicon Valley. Gray war einer der ihren. Sie schrieben Software für die Suche im Datenozean und stellten ein Blog und eine Website ins Netz. Sergey Brin von Google bot Expertise zur Satellitenbildauswertung an. Die Firma DigitalGlobe ließ einen ihrer Satelliten Aufnahmen der Suchregion anfertigen.

Suchaktion vom Lehnstuhl aus

Techniker teilten die Aufnahmen in tausende Abschnitte auf, die dem Mechanical Turk bei Amazon.com übergeben wurden. Das ist eine Software, die bei der kollaborativen Lösung von Problemen hilft, mit denen Computer sich schwertun, bei der Bildauswertungen beispielsweise. Freiwillige konnten sich einzelne kleine Abschnitte aus weiträumigen Staellitenaufnahmen aus dem Netz laden und nach Spuren der „Tenacious" absuchen. Der Mechanical Turk sorgte für die koordinierte Verteilung der Abschnitte und meldete mögliche Treffer. Tausende beteiligten sich an der Suche.

Was mit Hilfe des Amazon-Dienstes mit Ameisenfleiß und von Hand betrieben wird, versuchen nun auch Algorithmen nachzuvollziehen. Begriffe wie Künstliche Intelligenz, Data Mining und aktuell Big Data stehen für den Anspruch, unstrukturierte Rohdaten veredeln und lernen zu können, wie man das immer besser, verfeinerter, tiefgehender macht – bis hin zur Prognose menschlicher Verhaltensweisen und künftiger Ereignisse.

Die numerische Klimakatastrophe

Vier Sekunden dauert es, um eine Milliarde auszugeben, erläutert Jérôme Kerviel, ehemaliger Börsenhändler der französischen Großbank Société Générale, der im Januar 2008 mit Spekulationsgeschäften einen Verlust von 4,8 Milliarden Euro verursachte, da verliere man irgendwann das Gefühl für Zahlen. Zahlen wölken nun als numerische Klimakatastrophe durchs Netz. Dataquest ermittelte, dass sich in den zurückliegenden 300.000 Jahren zwölf Exabyte an Information angesammelt haben (ein Exabyte entspricht einer Milliarde Gigabyte), während die nächsten zwölf Exabyte bereits zwischen 2002 und 2004 zusammenkamen. „Es wäre gut, wenn wir ein bißchen was löschen”, kommentierten die „San Jose Mercury News”, das Hausblatt des Silicon Valley.

Datenschutz heißt heute: Wie schütze ich mich vor Daten?

Die Informationsgesellschaft hat in dem Moment begonnen, in dem klar war, dass zu viel Information da ist. Big Data ist eine Grundbedingung der digitalen Welt. Datenschutz heißt heute, Antworten auf die Frage zu finden: Wie schütze ich mich vor Daten? Wir sind mit einer neuen Form der Umweltverschmutzung konfrontiert. Überinformation ist der Smog des 21. Jahrhunderts. Je kompakter und intelligenter jemand heute seine Ideen oder Informationen aufbereitet, desto wertvoller wird sein Beitrag. Die an Menge orientierte Mentalität des „Mehr ist besser" stammt noch aus der Zeit eines rein materiellen Warenaustauschs. Durch nichts läßt sich der vermeintliche Reichtum an Information besser veranschaulichen als durch die Magie großer Zahlen.

Die Fünf Augen sehen alles

Der vermißte Datenbankspezialist Jim Gray wurde in San Francisco geboren und verbrachte seine ersten Lebensjahre in Rom, wo sein Vater als Spion für die US Army arbeitete. Vater und Sohn hätten nicht erst nach WikiLeaks und den Enthüllungen von Edward Snowden über reichlich Gesprächsstoff verfügt. Schon Ende der Neunziger hatten Journalisten das Projekt Echelon aufgedeckt, das die „Five Eyes“ betrieben – Amerikaner, Engländer, Kanadier, Australier und Neuseeländer. 2001 belegte ein Untersuchungsbericht des Europäischen Parlaments, dass die National Security Agency (NSA) mit Echelon Telefonate, Mails und sonstige Kommunikation großflächig belauschte.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 geriet der Echelon-Skandal in Vergessenheit. Stattdessen wurden in den USA mit dem „Patriot Act“ die Überwachungsbefugnisse von Polizei und Nachrichtendiensten erheblich erweitert. Die Geheimdienste hatten nun völlig freie Hand beim Belauschen des weltweiten Telefon- und Datenverkehrs. Im Sommer 2010 kamen investigative Journalisten der Washington Post nach einer zwei Jahre dauernden Recherche zu dem Schluss, dass die Welt der US-Geheimdienste ein Ausmaß noch jenseits obskurer Verschwörungstheorien angenommen hat. Hinter den öffentlichen USA existiert ein zweites, geheimes Amerika.

Metadaten lassen sich nicht verschlüsseln

Heute sind in den immensen, zunehmend zugänglichen Datenfluten für Polizei und Geheimdienste Verbindungsdaten - die sogenannten Metadaten - von bevorzugtem Interesse, denn sie lassen sich nicht verstecken. Die Inhalte von Kommunikation lassen sich verschlüsseln, aber Muster in seinem Kommunikationsverhalten zu verbergen, ist bedeutend schwieriger bis unmöglich. Informationen darüber, mit dem man sich ausgetauscht hat, und wer davon mit wem in Kontakt steht, können ebenso aussagekräftig sein wie Gesprächsinhalte oder sogar komplexere Einblicke in Beziehungsnetze geben, als durch die mühsame Entschlüsselung und Auswertung von Gesprächsprotokollen.

Mit diesem Phänomen sah sich auch die amerikanische Journalistin und Terrorismus-Expertin Paula Broadwell konfrontiert, als ihre Affäre mit CIA-Direktor General David Petraeus im November 2012 aufflog. Sie hatte sorgsam darauf geachtet, ihre E-Mails von einem anonymen Gmail-Account aus zu senden und sich auch nicht von zu Hause aus eingeloggt. Das FBI identifizierte sie trotzdem. Broadwell nutzte den Account, in der Meinung, vorsichtig zu sein, von verschiedenen Hotels aus. Das FBI verglich die Gästelisten an relevanten Tagen und suchte nach übereinstimmenden Namen – ihrer war der einzige.

Jim Gray wurde nie gefunden. Am 16. Mai 2012 erklärte ein Gericht in San Francisco ihn auf Antrag seiner Frau für tot.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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