1997 CD-Roms mit Software von America Online (AOL) und CompuServe
1997 CD-Roms mit Software von America Online (AOL) und CompuServe
© /Jens Buettner

Peter Glaser: Zukunftsreich

Das andere Netz

In dem 1912 veröffentlichten Roman „The Lost World“ des Sherlock-Holmes-Autors Sir Arthur Conan Doyle wird von einem geheimnisumwitterten Hochplateau im südamerikanischen Dschungel berichtet, auf dem angeblich noch Urzeittiere leben. In der heutigen Welt, in der die Erde sich in einen facebookblauen Planeten verwandelt, ist manchmal von einer virtuellen Abart solcher Hochebenen zu hören.

Rechnen in den Abendstunden

1969 gründete das US-Versicherungsunternehmen Golden United Life in Columbus, Ohio, ein Tochterunternehmen namens Compu-Serv Network. Es war der erste für die Öffentlichkeit gedachte Onlinedienst. Die Firma vermietete Rechenzeit, die neben den Business-Anwendungen in ihren Rechenzentren noch verfügbar war, insbesonders außerhalb der Geschäftszeiten in den Abendstunden. 1975 wurde das Unternehmen in die Selbständigkeit entlassen; die Versicherung ging später Bankrott.

1977 benannte man sich offiziell in CompuServe um. Der während der Abendstunden anwachsende Verbraucherinformationsdienst namens MicroNET galt hausintern erst als Spielkram. Als sich dann doch die Hinweise mehrten, dass es ein Hit werden würde, strich man den Namen MicroNET zugunsten des eigenen.

Computer, die nicht wissen, was sie tun sollten

1979 gab es 10 Großrechner und viel Rechenzeit zu verkaufen. Zwischen 5 Uhr nachmittags und 6 Uhr morgens wurden die Rechner heruntergefahren und hockten da, ohne zu wissen, was sie tun sollten. Das Netz - geleaste Telefonverbindungen quer durch die USA - war auch da. Also begannen die Timesharing-Leute dem neuen Typus Mensch, der zu jener Zeit kristallisierte - junge Mikrocomputer-Benutzer - Rechenzeit zu verkaufen, dazu die Möglichkeit, E-Mail mit anderen Systemteilnehmern auszutauschen.

Das E-Mail-Feature war ursprünglich nur als Nebensache gedacht, aber es stellte sich schnell heraus, dass die Menschen sich lieber Briefe schickten, als große Rechenaufgaben ausführen zu lassen. Sie begannen, mit anderen Leuten landesweit zu kommunizieren. Da überall Netzknoten mit eigenen Telefonnummern zum Ortstarif installiert waren, entstanden kaum Telefongebühren.

Seit Juli 1979 hieß die Firma nun „CompuServe Information Service" (CIS). Zu der Zeit hatte sie 1200 Kunden - vor allem diese Leute, die technisch immer die Nase vorn haben wollen.

Den CompuServe CB-Simulator

1980 wurde ein weiteres Feature freigeschaltet, das der Compuserve-Manager Alexander „Sandy“ Trevor entwickelt hatte: den CompuServe CB Simulator. Das CB stand für den damals beliebten CB-Funk (Citizens‘ Band Radio), nachmals popularisiert durch das Roadmovie „Convoy“, in dem CB-funkende LKW-Fahrer als moderne Cowboys dargestellt wurden. Da die meisten Leute nicht wussten, was ein Multiuser-Chat ist, aber CB-Funk kannten, nutzte man bei CompuServe die Funkvariante, um den Leuten das neue Konzept „Chat“ verständlich zu machen. Wie beim CB-Funk gab es 40 „Channels“ und Befehle wie „Sender einstellen“, „Rauschunterdrückung“ und „mithören“.

Der CB-Simulator wurde schnell zum erfolgreichsten CompuServe-Feature, und das ganz ohne Marketing. Als 40 Kanäle nicht mehr ausreichten, wurden weitere hinzugefügt, darunter auch ein „Erwachsenen“-Frequenzband für mehr oder weniger erotische Unterhaltungen. Im selben Jahr 1980 wurde CompuServe von H&R Block gekauft, einem weltweit agierenden amerikanischen Wirtschafts- und Steuerberatungsunternehmen.

Das Internet vor dem Internet

Ab 1987 gab es CompuServe-Zugangsmöglichkeiten auch von Japan, ab 1988 dann auch von Europa aus. Anfang der Neunzigerjahre hatte CompuServe allein in Deutschland mehr als 100.000 Teilnehmer - weltweit um 2.500.000 - und operierte auf einem heißen Markt. Es war das Internet vor dem Internet. Neben der angestammten Konkurrenz in den USA, Onlinediensten wie America Online (AOL), Prodigy, Delphi, Apples eWorld und GEnie, traten neue, mächtige Anbieter auf, allen voran Bill Gates mit seinem Microsoft Network MSN.

In Europa bastelten große Verlagshäuser an Allianzen mit US-Services oder eigenen Online-Diensten - AOL Deutschland und Europa Online, um nur die größten zu nennen. 1991 hob die National Science Foundation, von der die amerikanischen Hauptleitungen des Internet, die Backbones, finanziert wurden, Restriktionen gegen die kommerzielle Nutzung des Netzes auf. Nun ging es richtig los. CompuServe ereilte das Schicksal vieler Pioniere. Die Firma hatte den Weg für neue Kommunikationsformen wie E-Mail und Chat bereitet, das Grafikdateiformat GIF eingeführt und die Grundlagen für die Datenspeicherung in der Cloud gelegt.

1998 wurde Compuserve durch den übermächtig gewordenen vormaligen Konkurrenten AOL übernommen. Am 6. Juli 2009 wurde Compuserve abgeschaltet. Am selben Tag machte die British Library den Codex Sinaiticus im Internet zugänglich, die älteste erhaltene Bibelhandschrift, zu deren Pergamentherstellung die Häute von 700 Kälbern und Schafen nötig gewesen waren.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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