Der Darm als "Zentrum unserer Gesundheit"
Der Darm als "Zentrum unserer Gesundheit"
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Wissenschaft & Blödsinn

Das Bauchgefühl ist ein Trottel

Das Gehirn hat in manchen Bevölkerungskreisen keinen guten Ruf. Das merkt man sehr deutlich, wenn man esoterische Ratgeberliteratur liest. Da wird uns erklärt, dass wir dem Herzen vertrauen sollen, dem Bauchgefühl oder dem Solarplexuschakra – aber keinesfalls dem Kopf. Auf den ist kein Verlass. Wann wurden Sie jemals von einer Bauchspeicheldrüse angelogen? Eben.

Doch auch außerhalb der Esoterikszene stehen Intuition und gefühlte Wahrheit hoch im Kurs. Besonders angesehen ist der „Hausverstand“, auf den man gerne zurückgreift, wenn der gewöhnliche Verstand Ergebnisse liefert, die unserem Bauch nicht gefallen. Der Hausverstand wirkt beruhigend, so wie das Hausmittel, das wir als Alternative zur echten Medizin probieren, oder der Hauswein, den man den Gästen vorsetzt, wenn sie vom richtig guten Wein schon ein bisschen zu viel erwischt haben.

Und ganz falsch ist das gar nicht. Wir nehmen eine Menge Information auf, die wir intuitiv nutzen, auch wenn wir sie nicht bewusst wiedergeben können. Unsere Entscheidungen treffen wir nicht, indem wir alle Fakten sauber polieren, übersichtlich zurechtrücken und rational abwägen, sondern indem wir tief in den Morast des halbvergorenen Halbwissens greifen und auf undurchsichtige Weise eine Meinung hervorziehen. Erstaunlicherweise liegen wir damit ziemlich oft richtig.

Welche Stadt hat mehr Einwohner – Miami oder Tampa? Die meisten Leute verlassen sich auf ihr spontanes Bauchgefühl, antworten mit „Miami“ und haben damit Recht. Diese Stadt kennen wir aus Filmen, ihr Name lässt in unseren Köpfen zumindest diffuse Bilder aufblitzen, selbst wenn wir noch niemals dort waren. Zu Tampa fällt dem durchschnittlichen Europäer weniger ein, deshalb gehen wir intuitiv davon aus, dass Miami die wichtigere und größere Stadt ist. Der deutsche Psychologe Gerd Gigerenzer verwendet gerne solche Beispiele, um den Nutzen von Bauchentscheidungen zu illustrieren.

Doch oft genug greift man mit dieser Logik auch daneben: Was ist größer – San Francisco oder Shijiazhuang? Raten Sie mal, und sehen Sie nach.

Der Hausverstand sagt uns auch, dass die Jugend immer dümmer und respektloser wird, dass Alkohol im Gegensatz zu Cannabis ganz normal und harmlos ist, und dass beim Roulette ganz sicher Rot kommen muss, wenn fünfmal hintereinander Schwarz an der Reihe war. Ganz ehrlich: Der Hausverstand ist ein ziemlicher Trottel.

Der Arzt im Bauch

Richtig gefährlich wird es, wenn man versucht, Krankheiten mit Bauchgefühlen zu heilen. „Intuitive Healing“ ist ein neuer Trend aus den USA. Früher versuchten selbsternannte Wunderheiler meist, sich mit irgendeiner Scheintheorie fachliche Autorität zu verschaffen. Sie zeichneten hübsche bunte Bilder von Energieflüssen im Körper, sie sprachen von „uraltem Wissen“ unserer Vorfahren oder hatten zumindest die Phantasie, sich auf Erzengel und Heilige zu berufen.

Die neuen „Medical Intuitives“ brauchen nicht einmal das. Sie liefern gar keine Begründung mehr, sondern verlassen sich bloß auf ihr Bauchgefühl. Wenn man sogar Esoterik-Bücher noch zu kompliziert findet, wenn man auch im Auraheilungs-Kurs nicht stillsitzen kann, und wenn man selbst Hogwarts noch für einen repressiven Ort der Schulmedizin hält, dann kann man immer noch eine Karriere als Intuitions-Heiler anstreben. Ein Medical Intuitive braucht weder Laborbefunde noch Röntgenbilder, er spürt, wo das Problem des Patienten liegt. Den Tod muss dann aber schon ein richtiger Arzt feststellen – so will es das Gesetz.

Die Evolution ist kein Trottel

Unser Hausverstand hat sich evolutionär entwickelt. Bei bestimmten Aufgaben ist er sehr nützlich, bei anderen schadet er eher. Das ist nicht überraschend: Auch unsere Hände sind unglaublich hochentwickelte, sensible, vielseitige Werkzeuge, aber für manche Probleme reichen sie nicht aus. Wir können mit bloßen Händen keine Armbanduhr reparieren, wir können mit unseren Fingern keine Mikrochips zurechtfalten, und durch bloßes Hingreifen auszutesten, ob die Steckdose angeschlossen ist, erweist sich auch nicht als kluge Strategie. Für solche Aufgaben haben wir andere, passendere Werkzeuge entwickelt.

Dasselbe gilt für unseren Hausverstand. Er hilft oft, aber er genügt nicht, um die Wirksamkeit eines Medikaments zu beurteilen. Das macht auch nichts, denn dafür haben wir doppelt verblindete Placebostudien erfunden. Unsere Intuition kann manchmal das Wetter vorhersagen, doch hochentwickelte meteorologische Simulationsrechnungen haben einfach eine bessere Trefferquote. Mein Bauchgefühl mag der Meinung sein, dass ich in diesem Monat kaum erst Geld ausgegeben habe. Um vorherzusagen, ob meine Bankomatkarte demnächst gesperrt wird, ist ein Blick auf den Kontostand aber doch die nützlichere Idee.

Genau das ist es, was uns Menschen ausmacht: Wir können Techniken entwickeln, mit denen wir uns über unsere natürlich angeborenen Möglichkeiten erheben können. Wer sich dem verweigert und zum angeblich Unverfälschten, Natürlichen und Intuitiven zurückkehren möchte, lehnt gerade das ab, was unsere Spezies auszeichnet. Kräne machen uns stärker, computergesteuertes Laserwerkzeug macht uns präziser, die Wissenschaft macht uns klüger als wir natürlicherweise ohne unsere selbstentwickelten Hilfsmittel sein könnten. Und all diese Dinge gehören zum Menschsein dazu.

Das Bauchgefühl ist eine schöne Sache, wir sollten es nutzen. Aber wir müssen auch erkennen, wo es fehl am Platz ist. Manchmal brauchen wir die richtig feinen Werkzeuge. Wir sollten stolz darauf sein, dass wir sie haben.

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen schreibt er jeden zweiten Dienstag in der futurezone.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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