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Peter Glaser: Zukunftsreich

Der vielleicht wichtigste Unterschied überhaupt

Komplexe Dinge sind vielleicht ein bißchen anstrengend, aber das ist ok. Die Welt ist dazu da, komplex zu sein. Das sollte jeder sich klarmachen, der schon mal darüber nachgedacht hat, weshalb das Universum nicht einfach ein sauberer, weißer Würfel ist.

Komplexität verheißt Fortschritt. „Kultur“, sagte der Schriftsteller Egon Friedell, „ist Reichtum an Problemen.“ Wäre da nicht die Kompliziertheit, die misslungene Form der Komplexität. Unverständliche Bedienungsanleitungen etwa sind kompliziert. Oder die Beschriftung auf dem Knopfbrett des Aufzugs im Einkaufszentrum bei mir um die Ecke: Auf den Knöpfen für die einzelnen Etagen steht 1, E und B.

„Papa, was heißt B?”

Ich begegne in diesem Aufzug manchmal Eltern mit kleinen Kindern, die schon lesen können und gerne auf den Knopf drücken möchten. „Papa, was heißt B?”, kommt dann gelegentlich als Frage. Und meist weiß Papa es nicht. Ohne Zweifel hat der Designer des Knopfbretts das Kürzel B (für „Basement“) für ein Zeichen von Weltläufigkeit gehalten. Aber es verkompliziert das Aufzugfahren: Es macht den Aufzug zu einem Ort, der seine Passagiere ohne Not verunsichert und Eltern in Verlegenheit stürzt.

Das heimliche Modem

Einer Studie der Technischen Universität Eindhoven zufolge ist der durchschnittliche Nutzer der Ansicht, Geräte, zu deren Inbetriebnahme man mehr als 20 Minuten brauche, seien zu kompliziert. Er wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zurück ins Geschäft tragen. Der Siegeszug des Faxgeräts in den Achtzigerjahren zum Beispiel beruhte darauf, dass es erfogreich zu verheimlichen wußte, dass es eigentlich ein Modem ist. Ein Faxgerät ist etwas Komplexes, trotzdem braucht man nur ein Blatt Papier reinzustecken und auf einen Knopf zu drücken. Schon mal die Parameter eines Modems direkt eingestellt – Handshake, Parity-Bits? Sehen Sie.

Künstliche Schwierigkeiten

Aber auch unter den Kompliziertheiten gibt es positive Erscheinungsformen, was unser Thema endgültig komplex macht. So üben künstliche Schwierigkeiten auf Menschen einen geradezu unwiderstehlichen Reiz aus. Das beste Beispiel dafür sind SMS und Twitter. In den neunziger Jahren gingen alle Experten davon aus, dass die Nutzer elektronischer Kommunikation alles immer bunter, grafisch aufwendiger und bequemer haben wollen und E-Mails mit eingebetteten Filmchen das nächste große Ding sein würden.

Stattdessen wurde das Eintippen dieser spartanischen, 160 Zeichen kurzen Nachrichten über teils mehrfach belegte, winzige Tasten zu einem phantastischen Erfolg. Danach kam Twitter, nochmal 20 Zeichen kürzer, und wieder wusste erst niemand so recht, wozu diese künstliche Verknappung gut sein sollte. Was haben wir jetzt wieder richtig gemacht? Inzwischen hat sich herausgestellt, dass Twitter die erste Zeitung ist, die nur aus dem Inhaltsverzeichnis besteht. Ein Dienst, der die komplexe Welt, aus der die Zeitungen berichten, wunderbar übersichtlich und handhabbar macht.

Der avantgardistische Couch Potatoe

Der bedeutende Unterschied zwischen komplex und kompliziert zeigt sich auch im Wandel der Medien. Die Situation des Schiedsrichters bei einem Fußballspiel etwa ist kompliziert – er ist mit seiner singulären Sicht auf dem Spielfeld in einer schlechteren Position als jeder Fernseh-Zuschauer, der kritische Situationen im Lauf der nächsten Sekunden aus einem halben Dutzend unterschiedlicher Kamerapositionen und in Zeitlupe wiederholt sehen kann. So kann der Zuschauer sich ein rundes Bild einer komplexen Lage machen. Hinzu kommt, dass sich der scheinbar bequeme Medienkonsument als wesentlich optionsfreudiger erweist, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Er ist ein Ausbund an Netzaktivität.

Die Frage, wie man den Unterschied zwischen Komplexität oder Kompliziertheit erkennen kann, läßt sich mit der Beschreibung eines Ausflugs ins Grüne beantworten. Bei einem Waldspaziergang kann man sich von der Wahrnehmung einer Unzahl von Blättern und Tannennadeln überfordert sehen und zur Abhilfe mehr und bessere Gehölzwahrnehmungstechnologien fordern. Man kann aber auch einfach einen Spaziergang durch einen Wald machen und erholt wieder nach Hause kommen. Das macht den Unterschied.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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