© Jürg Christandl

Peter Glaser: Zukunftsreich

Die Privatisierung der Öffentlichkeit

Google+ ist ein merkwürdiger Verein. Das neue soziale Netzwerk von Google gibt es jetzt gerade einmal fünf Wochen, und es ist noch gar nicht offiziell eröffnet. Um reinzukommen, braucht man eine Einladung von jemandem, der schon drin ist, ganz wie es sich für einen exklusiven Club gehört. Und dann braucht man noch ein bißchen Geduld und etwas Hornhaut an der Stelle, an der mancher auf Willkür empfindlich reagiert, denn auch Eingeladene werden nur in unregelmäßigen Wellen ins Innere geschwemmt.

Da ist man dann, nach Ansicht vieler, in dieser neuen, modernen Form von Öffentlichkeit und richtet seine Aufmerksamkeit in den wie eine Mischung aus Fließband und Flohmarkt vorbeiruckelnden Stream und auf das, was die anderen gerade für wichtig, schön, interessant oder komisch halten, und ab und zu legt man seinerseits etwas auf das Laufband. Wenn man im Internet-Zeitalter von einem „exklusiven Club“ spricht, muß man bedenken, dass solche Einrichtungen inzwischen planetare Ausmaße haben – nach letzten Schätzungen haben es bei Google+ inzwischen mehr als 25 Millionen Teilnehmer am Türsteher vorbei geschafft. Diese kleine Inside-Crew probiert nun aus, was man mit einem solchen komplexen Spielzeug alles machen kann. Zum Beispiel Ärger.

Seit einiger Zeit geht es zur Frage der digitalen Identität hoch her. Die Leute von Google möchten, dass die Nutzer ihren richtigen Namen angeben. Das gibt schon mal Probleme bei Künstlernamen oder etwa Pseudonymen, unter denen Blogger sich im Netz einen Namen gemacht haben. Und natürlich muß es auch in dieser neuen Welt, die aus nichts als Kommunikation besteht, Freiräume geben, in denen man sich ungefiltert äußern kann, ohne dass man gleich befürchten muß, deshalb vielleicht seinen Job zu verlieren.

 

„Ein höflicher Umgangston ist wie in jedem öffentlichen Raum auch im Netz nicht selbstverständlich, er benötigt Regeln und Diskurspflege“, schreibt etwa Johannes Kuhn in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift „Das Netz muss Anonymität zulassen“. Wobei sich niemand der Illusion hingeben sollte, dass in einer technisch errichteten Umgebung wie einem sozialen Netz so etwas wie Anonymität möglich wäre, so lange ohne Schwierigkeiten die IP-Nummer hinter jedem Pseudonym ausfindig gemacht, der zugehörige Rechner beschlagnahmt und diejenigen, die gerade am nächsten neben dem Rechner stehen, verhaftet werden können – wie es beispielsweise viele, die vorletztes und letztes Jahr an den Protesten gegen die gefälschte Wahl im Iran teilgenommen haben, schmerzlich erfahren mußten.

Die eigentliche Illusion aber ist, dass es sich bei Google+, Facebook, Twitter und Konsorten um öffentlichen Raum handle. Es sind Unternehmensbereiche, die sich vielleicht anfühlen wie öffentlicher Raum, in denen aber das Hausrecht des Betreibers gilt. Was sich nun mit den sozialen Netzen vollzieht, ist eine bislang beispiellose Privatisierung von Öffentlichkeit (auch wenn innerhalb dieses privatisierten Bereichs neue Formen von Öffentlichkeit entstehen).

Die meisten der etwa zwei Dutzend U-Bahnlinien in Tokio werden von Privatunternehmen betrieben. Einem dieser Unternehmen gehört auch ein großes Einkaufszentrum in einem der Bahnhöfe. Da man die Bahnhöfe nur mit einem gültigen Ticket betreten kann, bedeutet das: Jemand, der sich kein Ticket kaufen will oder sich keines leisten kann, kann dieses Einkaufszentrum nicht betreten. Öffentlicher Raum, der bis vor kurzem als eine Domäne sozialer Gemeinschaftlichkeit angesehen wurde, wird in der realen wie auch in der digitalen Welt in zunehmendem Maß wirtschaftlichen Interessen untergeordnet.

Gehen wir auf eine Welt zu, wie der Science Fiction-Autor Neal Stephenson sie 1992 in seinem Roman “Snow Crash” entworfen hat? – eine brutalkapitalistische Zukunft, in der es kaum noch Staatsmacht gibt und die Rudimente an öffentlicher Ordnung von Privatunternehmen reguliert werden? Die Menschen suchen Zuflucht in einem “Metaversum”, einer virtuellen Welt, durch die man sich mit einem einem Avatar bewegt... Oder ist es so, dass wir Teile der Öffentlichkeit und zugleich auch Teile unserer Privatsphäre aufgeben, um sie gegen gewisse Komforts einzutauschen? Manchmal, wenn Amazon mir etwas empfiehlt, ist da fast schon etwas von dem warmen Behagen, das althergebrachte Personalisierungsverfahren erzeugen, etwa wenn man sich in seinem Stammcafé niederläßt und auch gleich gefragt wird „Wie immer, Herr Generaldirektor?“

Die Wände, die uns umgeben, werden durch das Netz immer durchlässiger und poröser, als würde sich das löchrige Gewebe, das ein Netz ja darstellt, nun auch auf die übrigen Teile der Welt übertragen. Was sich im Netz abspielt, fühlt sich inzwischen oft an wie Beichten ohne Sünde: Alle packen aus, alles öffnet sich. Der Hauptspaß besteht darin, sich selbst in die Welt hinauszuschütten und von durstigen, aufmerksamen Augen getrunken zu werden. „Ausbreiten” bedeutet das lateinische Wort „expandere”, aus seiner Partizipform „expasso” ist unser „Spaß” hervorgegangen.

Unsere Kultur wurzelt in dem hohen Wert, den wir dem Individuum zumessen. Privatsphäre ist der Humus, auf dem dieser Wert gedeiht. Angriffe auf diese Grundlage folgen inzwischen der selben Strategie, nach der auch moderne Kriege geführt werden: Nicht mehr die große Heere gewinnen die Schlacht, sondern kleine Einheiten. Dieser Salamitaktik hin zu immer neuen Kontrollmaßnahmen begegnen immer mehr Menschen affirmativ. Unsere Gesellschaft scheint von einer unbändigen Lust an der Geheimnislosigkeit erfasst zu sein. Und es sind längst nicht mehr nur Medientechnologien, die eingreifen in das, was nun öffentlich sein soll und was nicht.

Wer etwa in Singapur mit der Bukit Panjang LRT-Linie, einer vollautomatischen Kabinenbahn, fährt, kann während der Fahrt ein bemerkenswertes Phänomen beobachten. An einigen Streckenteilen fährt der Zug nahe an Wohnhäusern vorbei und jeweils kurz davor werden die Fensterscheiben des Zugs auf einen Schlag milchig und intransparent – um die Privatsphäre der Anwohner zu schützen. Die Scheiben sind aus sogenanntem „Privacy Glass” gefertigt, das sich auf Knopfdruck zwischen durchsichtig und undurchsichtig umschalten läßt. Kleine Signalgeber an der Strecke teilen den Zugfenstern automatisch mit, wann sie den elektronischen Vorhang zuziehen sollen und wann der Blick wieder freigegeben werden kann in die Bereiche, die uns gemeinsam verfügbar sind. In die Öffentlichkeit.

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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