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Peter Glaser: Zukunftsreich

Die Technisierung des Weihnachtsmanns

Im Dezember 1955 schaltete die Niederlassung der Kaufhauskette Sears in Colorado Springs eine Zeitungsanzeige, in der Kinder aufgefordert wurden, eine von drei Telefonnummern anzurufen, um mit dem Weihnachtsmann persönlich zu sprechen („Hey Kiddies! Call me direct"). Bei einer der Telefonnummern war eine Ziffer falsch gedruckt. Die Nummer existierte, aber sie stand in keinem öffentlichen Telefonbuch.

Die Kinder, die am Weihnachtsabend 1955 unter der Nummer anriefen, hatten statt des Weihnachtsmanns den Befehlshaber des NORAD-Vorläufers CONAD, Colonel Harry Shoup, am Telefon. NORAD – das North American Aerospace Defense Command – ist die zentrale Leitstelle für die Frühwarnsysteme der amerikanischen und kanadischen Luftverteidigung. (In dem Film „War Games" von 1983 glaubt der Hacker David Lightman, den Computer einer Spielefirma überlistet zu haben. In Wirklichkeit spielt er mit dem Hauptrechner von NORAD „weltweiter thermonuklearer Krieg".)

Colonel Shoup erfaßte am Weihnachtsabend 1955 rasch, was passiert war. Er ließ seine Leute an den Radarschirmen Ausschau halten, ob der Weihnachtsmann sich schon vom Nordpol aus auf den Weg gemacht hatte und wo er gerade war. Die Kinder, die anriefen, wurden mit seiner aktuellen Position versorgt.

Ein bißchen Weihnachtsmannphysik
Kritiker unterstellen, dass der Weihnachtsmann, um am Weihnachtsabend sämtliche Geschenke an sämtliche Kinder zuzustellen, mit einer Geschwindigkeit unterwegs sein müßte, bei der er durch die Luftreibungshitze verdampfen würde. Man wünscht sowas keinem Weihnachtsmann. Andererseits ist belegt, dass der Weihnachtsmann problemlos durch Schornsteine klettern kann, auch wenn im Kamin ein Feuer brennt. Wie macht er das?

Physiker sind der Ansicht, dass der Weihnachtsmann mit einem sogenannten Ionen-Schild aus geladenen Teilchen operiert. Sie werden durch ein Magnetfeld zusammengehalten, das seinen Schlitten umgibt, und weisen die Hitze ab. Ein astronomisches Phänomen scheint diese Theorie zu stützen. Es gibt im Dezember eine Reihe von Meteoritenschwärmen und Astronomen nahmen bisher an, dass es sich dabei immer um verglühende kosmische Partikel handelt. Um die Weihnachtszeit aber werden die Leuchterscheinungen offenbar durch den Weihnachtsmann verursacht, der immer wieder die Erdatmosphäre verläßt und neuerlich in sie eintaucht, während er den Globus umrundet und die Geschenke verteilt.

Theoretische Physiker weisen darauf hin, dass der Weihnachtsmann möglicherweise gar nicht durch unser vierdimensionales Kontinuum reist. Die aktuelle Theorie über den Zustand des Universums erlaubt bis zu 26 Dimensionen, und je mehr Dimensionen, desto schneller lassen sich Geschenke zustellen.

Hochfliegende Absichten
In den Dreissigerjahren gab es in Deutschland Ansätze, die, wären sie erfolgreich verlaufen, zu einer spektakulären Technisierung des Weihnachtsmanns hätten führen können.

1929 war „Die Frau im Mond" von Ufa-Regisseur Fritz Lang der Hit der Kinosaison. Ein deutsches Raumschiff flog darin zum Mond. Zu den Besuchern, die das Lichtspiel mit leuchtenden Augen sahen, gehörten die Mitglieder des privaten „Vereins für Raumschiffahrt" in Berlin - Männer wie Max Valier, der alles, was fahrbar war, mit einem Raketenantrieb versah, Hermann Oberth, der mit seinem Buch „Die Rakete zu den Planetenräumen" das Pionierwerk verfaßt hatte, und der junge Wernher von Braun.

Valier hatte Fritz von Opel als Unterstützer gefunden, der einen Sinn für werbewirksame Ideen hatte und in Rüsselsheim einen speziellen Raketenwagen konstruieren ließ. Am Heck des RAK I genannten Versuchswagens waren 12 Rohre für Raketen installiert. Am 12. April 1928 legte das von Kurt Volkhart gesteuerte Raketenfahrzeug eine 1500 Meter lange Strecke mit über 100 Stundenkilometern zurück. Dass ein Teil der Raketen nicht gezündet hatte, merkte in der Begeisterung niemand.

Raketenschlitten
Am 23. Mai 1928 absolvierte RAK II, von Opel persönlich gelenkt, eine aufsehenerregende Vorführung. Mit Heulen und einer langen Rauchfahne raste das Fahrzeug über die Berliner Avus und erreichte dabei 236 Stundenkilometer. Bald darauf ging das Team um Opel auseinander und Valier machte allein weiter. Anfang 1929 baute er mit der Hilfe neuer Förderer raketenbetriebene Kufenfahrzeuge. Bei einer Fahrt auf dem Starnberger See am 9. Februar erreichte ein von ihm umgebauter Schlitten 378 Stundenkilometer. Die unbemannte Fahrt endete an einem Bootssteg, der Raketenschlitten wurde zerstört.

Klimaschädling Weihnachtsmann?
Es gibt inzwischen mehr Menschen als jemals zuvor und also auch viel mehr brave Kinder, dadurch auch viel mehr Geschenke und dadurch wiederum viel mehr Luftwiderstand, den der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten zu überwinden hat, und eine Menge mehr an Reibungswärme, die dadurch entsteht. Klimaforscher vermuten, dass die Erwärmung über den Polkappen mit dieser zusätzlich abgestrahlten Hitze zu tun hat.

Woher weiß der Weihnachtsmann eigentlich, wie brav ein Kind war? Neurologen nehmen an, dass sich auf der Basis elektrostatisch aufgeladener Kinderwinterwollmützchen die Gehirnaktivitäten, also die durch Gedanken verursachten magnetischen Ströme lesen lassen. Diese Informationen werden an die Geweihe von Rudolph und der anderen Rentiere weitergeleitet, die wie eine empfindliche Antennenanlage funktionieren. Was den Datenschutz angeht, steht der Weihnachtsmann nicht gut da.

Rudolphs rote Nase
Seit nunmehr 57 Jahren haben die NORAD-Leute zu Weihnachten neben Interkontinentalraketen und Weltraumschrott auch den Weg des Weihnachtsmanns im Blick. Inzwischen gibt es eine eigene Website, auch auf Deutsch. Da der Weihnachtsmann seine Flüge nicht bei der Luftraumüberwachung anmeldet, muß NORAD immer erst einmal alle Weihnachts-Ufos identifizieren.

Dazu hält ein Ring aus Spionagesatelliten in 36.000 Kilometer Höhe Ausschau nach einer bestimmten Art von Infrarotstrahlung, wie sie typisch für die Triebwerksdüsen von Raketen oder Düsenjets ist. Nach Auskunft der „Tracking Santa"-Experten glüht die rote Nase von Rentier Rudolph so stark, dass die Detektoren des Infrarot-Satellitensystems sie problemlos erfassen können.

Zur visuellen Bestätigung werden im hohen Norden Kanadas zwei mit Digitalkameras und Scannern ausgerüstete CF-18-Jets eingesetzt. Sie müssen verifizieren, dass es sich bei dem jeweils erfaßten Objekt um den Weihnachtsmann und seine Rentiere handelt. Die Piloten sind jedesmal aufs Neue erstaunt, einen kleinen, dicken, vergnügten und rotgewandeten Mann in einem offenen Schlitten zu sehen, der ihnen mitten aus einem Schneesturm heraus zuwinkt.

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Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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