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Peter Glaser: Zukunftsreich

Games zum Gehen

Als sich Anfang der Neunzigerjahre das Internet auszubreiten begann, kam ein bemerkenswertes Computerspiel auf den Markt: Myst. Es wurde gern herangezogen, um Neulingen die unbekannte Welt des World Wide Web anschaulich zu machen. Wer Myst gespielt hatte - man bewegte sich darin intuitiv durch eine Landschaft voller Geheimnisse -, der hatte auch schon ein Gefühl dafür, wie man sich durchs Netz klickt.

Und das Spiel war schon reizvoll, noch ehe man es spielte. Vielen machte die detailreiche künstliche Welt Lust, sie einfach stundenlang zu durchstreifen. Manche ließen nur die atmosphärische Musik laufen. Da war etwas, das man genießen konnte, ohne sich von den sonst in Computerspielen üblichen Kämpfen und Sporteleien hetzen zu lassen.

Zwei Jahrzehnte später sind Computerspiele zur neuen Schwerindustrie des digitalen Zeitalters geworden. Bei manchen Projekten übertrifft der Aufwand inzwischen den von Hollywoodproduktionen. Der Grad an Realismus und die Animationen in modernen Spielen sind atemberaubend. Nur eines hat sich nicht geändert: die Spielideen.

Nach wie vor gibt es nur eine Handvoll Grundmuster, nach denen Computerspiele ablaufen - Ego-Shooter, in denen man durch die Augen eines Kämpfers blickt; Adventures, in denen die Puzzleteile einer Lösung zusammengetragen werden müssen; Fahr- und Weltsimulationen wie „Grand Theft Auto“ oder „Die Sims“; Jump-and-Run-Spiele a la „Super Mario“. Sie werden technisch jeweils auf dem neuesten Stand ausgeführt, aber immer nur variiert. In der erfolgreichen Milliardenbranche will keiner der großen Player mit etwas grundlegend Neuem ein Risiko eingehen.

Unabhängige Spieleentwickler jedoch haben die Lust am Experimentieren wiederentdeckt. Der Spiele-Spezialist Rainer Sigl nennt diese neuen, stimmungsvollen Independent-Games - in Anlehnung an die First-Person-Shooter, die klassischen Ballerspiele - „First-Person-Walker“. Der Spieler ist ein unbewaffneter Flaneur, es gibt keine Monstren und keine Gegner. Manche der Walking-Games erinnern an Briefromane, in denen sich eine Story erst nach und nach entfaltet. Es sind Spiele aus der Ich-Perspektive mit wenig herkömmlicher Action, dafür aufwendig gemachten Sounds und detailversessenen Szenarien, durch die man sich bewegen kann.

2011 erschien To The Moon und veranlaßte den Spielentwickler und Komponisten Kan Gao zu dem Hinweis: „Das ist kein Spiel ... aber vielleicht ein geeigneter Weg, eine Geschichte zu erzählen.“ Die handelt von Johnny, einem alten Mann, der im Sterben liegt. Zwei Wissenschaftler wollen ihm mit einer Maschine, die Erinnerungen verändern kann, seinen größten Traum erfüllen: auf dem Mond gewesen zu sein.

Im selben Jahr erschien „The Stanley Parable“, ein Spiel, in dem sich ein gewisser Stanley in einem leeren Bürogebäude wiederfindet und bei jedem Schritt von einem Erzähler begleitet wird – wobei man sich auch gegen die Erzählung entscheiden kann. Gibt es beispielsweise zwei offene Türen und es heißt, Stanley nimmt die linke, kann man auch durch die rechte gehen. Der Erzähler wird sich korrigieren und die Geschichte wird auch ein anderes Ende haben. Während gängige Spiele einem einen einzigen „richtigen“ Weg aufzwingen, kann „The Stanley Parable“ auf 18 verschiedene Weisen enden.

Ähnlich und doch unverwechselbar ist Dear Esther, das einen mitnimmt auf eine scheinbar unbewohnte Insel der Hebriden, wo man am Strand, über Land und durch fantastische Höhlen wandern kann, während man an bestimmten Punkten Fragmente einer rätselhaften Geschichte zu hören bekommt (die sich mit jedem neuen Spiel auf neue Weise anordnen).

Und auch Proteus spielt auf einer Insel, wobei das Ungewöhnliche an dem Eiland ist, dass es sich, zusammen mit zugehörigen Klängen, fortwährend neu erzeugt, während man es erkundet – was auch schon die Hauptaufgabe des Spiels ist. Die Entwickler Ed Key und David Kanaga haben sich vorgenommen, „ein nichttraditionelles und nicht gewalttätiges Videospiel“ zu programmieren. Stattdessen entrollen sich in kunstvoll reduzierter Grafik Tag- und Nachtwandel, Gelände, Pflanzen, Tiere und Gestirne vor dem Spieler, der eher staunt als spielt. Proteus ist der ideale digitale Kurzurlaub.

Wer sich erstmal einen Eindruck verschaffen will, kann sich Computerspiele auf YouTube auch vorspielen lassen. Freundliche, manchmal auch etwas aufgedrehte junge Menschen erläutern in den „Walkthroughs“ genannten Demonstrationen das Geschehen auch dieser besonderen Spiele – bei denen es nichts zu gewinnen gibt als Genuss.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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