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"Hallo, Sex?": Warum Tinder schlecht für uns ist

Der Slogan des bekannten Online-Dating-Portals lautet „Tinder is how people meet. It’s like real life, but better“. Diese Selbsteinschätzung ist nicht nur gewagt, sondern grundsätzlich falsch.

Das Überfliegen eines digitalen Profils darf und wird niemals das anregende Gefühl eines ersten Augenkontakts, das nervöse Zugehen auf die Hübsche an der Theke und die peinlichen Gespräche mit einer neuen Eroberung ersetzen. Die Einschätzung eines potenziellen Partners rein anhand eines Profilfotos und im besten Fall mit dem Zusatz eines philosophischen Einzeilers ist höchst oberflächlich und reduzierend. Nun kann man argumentieren, dass Flirtlustige auch in einer Bar nicht bevorzugt auf Personen zugehen, von denen sie sich ein Herz für Tiere oder eine Diskussion über Quantengravitation erwarten. Im Gegensatz zu einem im zehnten Versuch geschossenen und bearbeiteten Foto spielen jedoch „im echten Leben“ beobachtbare Faktoren wie Mimik, Gestik und das generelle Verhalten eine entscheidende Rolle.

Nachdem ein „Match“ erzielt oder äquivalent das Eis gebrochen worden ist, beginnt der Paarungstanz. Während Gespräche von Angesicht zu Angesicht noch den Anschein einer Eroberung besitzen und rasch die Frage nach der berühmten zwischenmenschlichen Chemie beantworten, beschränkt sich ein Tinder-Chat häufig auf das Nötigste. Durch die Unmöglichkeit, ein Getränk ins Gesicht geschüttet zu bekommen, kombiniert mit dem schier grenzenlosen Angebot, gestalten sich viele Konversationen, nett ausgedrückt, direkt und zielgerichtet. Eine Abfuhr über die App stört auch weiter nicht, wartet der nächste Gesprächspartner doch nur einen Klick entfernt. Ein Entwickler hat mit einem Tinder-Hack aggressiv flirtenden Männern den Spiegel vorgehalten und sie miteinander schreiben lassen, das amüsante Ergebnis spricht für sich selbst.

Cäsaren von heute

Es grenzt an Perversität, Menschen häufig innerhalb von Sekundenbruchteilen anhand ihrer Fotos in zwei Kategorien einzuteilen. Wie Cäsar einst mit seinem Daumen über Leben und Tod der Gladiatoren entschied, urteilen Tinder-Nutzer heute mit ihrem Daumen über die sexuelle Attraktivität des virtuellen Gegenübers. Mit der (zu bezahlenden!) Funktion „Rewind“ bietet Tinder sogar die Möglichkeit, sich die aus Versehen weggewischte Ehefrau von morgen wieder zurückzuholen. Diese Instrumentalisierung führt zu einer Verrohung von zwischenmenschlichen Beziehungen und raubt diesen jeglichen Wert. Das Verlangen nach schnellem und unbedeutendem Sex ist an sich nicht verwerflich. Sich diesen aus Langeweile beim Warten auf die U-Bahn oder von der Couch aus ohne Bemühungen, ohne den Austausch von Höflichkeiten holen zu wollen aber schon.

Keine Frage, Online-Dating-Portale wie Tinder sind erfolgreich. Im Juli 2015 wurden laut firmeneigenen Angaben 26 Millionen Matches pro Tag gemacht. Zahlen, zu wie vielen One-Night-Stands oder gar glücklichen Beziehungen ein Wisch nach rechts führte, sind unbekannt und kaum festzustellen. Tinder mag für manche Zielgruppen auch gewisse Vorteile mit sich bringen. Schüchterne Singles beispielsweise können den Deckmantel des Internets zur Überbrückung von Barrieren der ersten Kontaktaufnahme nutzen. Nichtsdestotrotz ist es befremdlich und gefährlich für eine Gesellschaft, immer mehr Aspekte des Lebens auf die virtuelle Ebene zu verlagern und zwischenmenschlichen Kontakt auf ein Mindestmaß zu reduzieren.

Gebt das Handy aus der Hand

"Ich habe immer gesagt, dass ein 'Match' auf Tinder so ist, als ob man Augenkontakt in einem Raum aufnimmt. Super-Like ist mehr so, als würde man zu jemandem hingehen und 'Hallo' sagen." kommentiert Tinder-CEO Sean Rad die (wieder zu bezahlende) Funktion, einer Person auch ohne Match eine Nachricht schreiben zu können. Ein schüchternes Lächeln beim ersten Kreuzen der Blicke auf einer Feier erregt mehr als ein "Match", ebenso wie ein Flirt an der Bar das Herz schneller pochen lässt als ein "Super-Like". Ein kontaktreicher Tanz im Club ist ein intensiveres Erlebnis als das gleichzeitige Führen von zehn belanglosen, virtuellen Konversationen in der Hoffnung auf schnellen Sex. „Typisches“ Kennenlernen, wie es die Menschheit auch vor den Zeiten des Internet-Datings erfolgreich praktizierte, ist zwangsweise mit Arbeit, aber auch mit positiver Spannung verbunden.

Beziehungen entwickeln sich aus solchen erinnerungswürdigen, gemeinsamen Erlebnissen, die beide Partner mit Emotionen assoziieren und gerne daran zurückdenken. Tinder verzerrt die Erwartungen seiner Nutzer in einer Weise, in der Personen in ihrer großen Menge nichts Besonderes mehr sind. Es wird gerade so viel investiert, dass es bei einem zufriedenstellenden Anteil an Kontakten zum Erfolg kommt. Flirtwillige und Singles auf der Suche sollten von ihrem Smartphone aufblicken und wirklich mit interessanten Menschen sprechen. Andernfalls verpassen sie noch die hübsche Studentin oder den sympathischen Kerl, der bereits die gesamte U-Bahnfahrt herübersieht.

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Tobias Görgl

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