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Peter Glaser: Zukunftsreich

Hypersex

Sex, Krieg und die Lust am Unsinn waren immer die treibenden Kräfte der menschlichen Evolution. Was für ein Quatsch, Millionen tonnenschwere Steinblöcke zu einer Pyramide aufzuschichten und daneben eine 80 Meter lange Katze aus dem Stein zu meißeln – und was für eine Inspiration! Seit Jahrtausenden regen die nutzlosen Bauwerke auf dem Gizeh-Plateau die Fantasie an.

Auch Sex bringt bekanntlich das Vorstellungsvermögen zum Erblühen und macht, ja: innovativ! Gerade ist es wieder soweit, dass das Ganze in technologischer Hochform stattfindet. Die Leute binden sich Bildschirmtaucherbrillen um und fahren total ab. Bei einer Weltfirma wie Facebook freut sich der Chef persönlich, dass niemand ihn sieht, weil sich ein ganzer Saal voller Journalisten die Augen verbunden hat, um die Zukunft zu sehen: Sie heißt, wieder einmal, Virtual Reality.

Während sich Industriegrößen wie Facebook, Sony, HTC und Samsung noch mindestens ebenso große Mühe geben müssen, die Menschen von den Vorteilen des Schnorchelns in Software zu überzeugen, sind andere schon mitten bei der Sache. Die spanische Firma VirtualRealPorn etwa wirft wöchentlich mehr als 50 aufwendig selbstproduzierte VR-Sexfilmchen auf den Markt und verdient schon richtig Geld mit dem Reiz am Neuen. Wobei das Neue nicht ganz so neu ist, nur dass man alles in jeder Hinsicht schärfer sehen kann als in den Neunzigerjahren, als bereits einmal Menschen in Ganzkörperdatenanzügen und mit Headup-Displays wie betrunken umherwankten und die Luft zu küssen versuchten.

"The Internet Is For Porn"

Bei allen Kulturtechniken von der Höhlenmalerei bis zur elektronischen Mailbox war Sex diejenige Anwendung, die entscheidende Impulse zur Durchsetzung des jeweils neuen Mediums gab. „Sex“, sagt der Schriftsteller Nicholson Baker, „ist derart präsent, dass wir dafür in jeder neuen Situation eine Anwendung finden können.“ Schon 15.000 Jahre bevor die keramische Technik zur Fertigung von nützlichen Dingen wie Schalen verwendet wurde, schufen Frühmenschen üppige Venusfiguren aus Ton. Als Johannes Gutenberg im 14. Jahrhundert den Buchdruck erfand, entdeckten die Massen bald, dass sie mehr wollten als Bibeln – und die pornographische Literatur war geboren.

Genauso hat Sex zur Ausbreitung der elektronischen Medien beigetragen. Ende der Siebzigerjahre, als noch nicht einmal ein Prozent der US-Haushalte ein Videorekorder besaß, waren mehr als 75 Prozent der verkauften Videokassetten Pornos. Am Erfolg des Privatfernsehens hatte Tutti-Frutti-Freizügigkeit ebenso ihren Anteil wie sie es nun am Erfolg der digitalen Technologien haben. „The Internet Is For Porn“ singen Mensch und Handpuppe quietschvergnügt in dem Broadway-Musical „Avenue Q“.

1986 programmierte Mike Saenz, ein ehemaliger Marvel-Comiczeichner, das erste nichtjugendfreie Computerspiel „MacPlaymate“. Der Spielverlauf erinnerte an eine Szene aus dem filmischen Unsinnsmeisterwerk „Kentucky Fried Movie“, in der ein Liebespaar den Anweisungen einer Schallplatte („Mehr Freude am Sex“) folgt: „Und nun sagt Sie zu ihm entweder a) Ich liebe dich, b) Ich begehre dich, oder c) Ich begehre dich sehr.“ - Die Frau, hingebungsvoll: „Beeeeh!" Den Schlüsselreiz der digitalen Sexangebote brachte der MTV-Berufspubertierende Butthead auf den Punkt: „Es wär‘ cool, wenn Mädchen immer machen, was man von ihnen will.“

Virtueller Porno

VR basiert, wie schon der Name sagt, auf der räumlichen Simulation einer Welt, die man nicht mehr nur distanziert wahrnimmt wie im Kino, sondern in die man scheinbar eintauchen kann. Und VR-Nutzer sehen aus, als würden Menschen nun beginnen, kleine Fernseher anzuziehen.

Teledildonics - virtueller Sex in einer virtuellen Umgebung - nannten Hightech-Hedonisten ihre Aneignung der Zukunftstechnik. Lisa Palac, Chefredakteurin der kurzlebigen kalifornischen Zeitschrift „Future Sex" entwarf für ein Cover netzwerkfähige Cybersex-Kleidung für Sie und Ihn – schwarz und leuchtpink designte Plastikhände als Büstenhalter, einen Saugvorsatz für den Herrn und den einspringenden Gegensatz dazu für die Dame. Noch Monate später riefen Leute an, die einen der Anzüge kaufen wollten. „Dabei war alles nur ein Witz“, so Palac zu dem Fake-Bild. „So weit war die Technik noch gar nicht."

Heute setzen Unternehmen wie VirtualRealPorn nicht nur auf Eintauchbilder, sondern auch auf Zubehör. Der Firmeneigene VR-Videoplayer unterstützt inzwischen auch kompatibles Sexspielzeug, das sich über Bluetooth mit der, also: Filmhandlung synchronisiert.

Cybersex

Cybertechnisierter Sex wäre nicht nur mit Menschen, sondern mit Allesmöglichem vorstellbar. Mit Räumen. Sex mit einem Planeten, mit einer Galaxis. Wenn es schließlich gelingen sollte, das Vergnügliche am Sex auf technischem Weg zu übertragen, dann kann man es auch zwischenspeichern. Damit würden dann Dinge wie Orgasmus-Rekorder oder sexuelle Anrufbeantworter vorstellbar. Die Lust wäre zu ersten Mal losgelöst vom Körper. Sogar die hochanständige „New York Times“ resümierte möglichen Vorzüge virtueller Erotik: „Sex ohne die verwickelten Komplikationen mühsamer Pflichtkonversation, ohne ansteckende Krankheiten und ohne das Frühstück danach.“

Aber was wird sein, wenn es einmal möglich sein sollte, dass ein alter Mann seiner Frau virtuell ihren jugendlichen Körper zurückgibt, ohne dass sie das weiß. Hat er sie dann mit ihr selbst betrogen?

Für Robert Anton Wilson, den Autor der berühmten „Illuminatus"-Trilogie, war die Konsequenz aus der bisherigen Entwicklung der menschlichen Fortpflanzung die grenzenlose Erweiterung der sexuellen Möglichkeiten mit der Option, Sex am Ende ausschließlich durch Visualisierung oder Imagination zu erleben. Der Kulturwissenschaftler Lewis Mumford ist allerdings der Meinung, dass die Sache einen Haken hat, „denn nichts kann die menschliche Entwicklung so wirkungsvoll hemmen wie mühelose, sofortige Befriedigung jedes Bedürfnisses durch mechanische, elektronische oder chemische Mittel. In der ganzen organischen Welt beruht Entwicklung auf Anstrengung, Interesse und aktiver Teilnahme - nicht zuletzt auf der stimulierenden Wirkung von Widerständen, Konflikten, Hemmungen und Verzögerungen. Selbst bei den Ratten kommt vor der Paarung die Werbung.“

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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