Peter Glaser: Zukunftsreich

Kicker und Kubisten

Diesmal wird gerungen, obwohl beim Fußball sonst eigentlich gekickt wird. Es geht um die Torlinientechnik. Noch Ende März hatte eine Mehrheit der deutschen Bundesliga-Profiklubs gegen die Einführung der automatischen Tor-Erkennung gestimmt. Vor zwei Wochen gab es eine neue Abstimmung, jetzt war die Mehrheit dafür. Diesmal durften allerdings nur die Erstligaklubs über die Sache befinden. Bei der ersten Abstimmung hatten sich die Zweitligaklubs gegen das avisierte Verfahren ausgesprochen – aus Kostengründen. Etwa 170.00 Euro im Jahr wird jeder Verein aufwenden müssen, um Phantomtore und Wahrnehmungsfehler a la Wembley mit technischer Hilfe auszuschließen. Vielen Zweitligisten war das zu teuer.

Österreich sieht Deutschland zwar als Vorbild, was die Technologie angeht. Den Stich gemacht hat das englische Ballerkennungssystem „Hawk-Eye“, das sich zuvor schon beim Tennis in Wimbledon bewähren durfte und das mit jeweils sieben Kameras den Torraum ausleuchtet. Aber die Fußballerlegende Herbert Prohaska ahnt bereits: „In Österreich wird zuerst vieles einmal wieder am Geld scheitern.“ Bundesliga-Präsident Hans Rinner möchte, dass es nach dessen innovativer Einführung jetzt erst einmal bei dem „günstigen Freistoßspray“ bleibt, ehe man „über andere Technologien nachdenken" werde. Auch ÖFB-Präsident Leo Windtner weiß, was der Neid den nördlichen Nachbarn lassen muß: „Deutschland hat bekanntlich ein finanziell wesentlich anderes Fundament als Österreich.“

Dazu kommt, dass das Spiel nicht mit Technik überladen werden soll. Der Fußball solle von Menschen bestimmt bleiben. Auch in Deutschland sind viele Traditionsfans gegen die Torlinientechnologie. Fehlentscheidungen gehören für sie zum Fußball. Jörg Schmadtke, Manager des 1. FC Köln, befürchtet: „Wenn wir die erste Tür öffnen, dann kommt noch mehr Technik ins Spiel. Das wird dann nur der Anfang sein.“ Bei der Abstimmung im März hatte sich Schmadtke trotzdem dafür ausgesprochen.

Tatsächlich ist die vermeintliche Schwäche des Schiedsrichters seine große und einzige Stärke. Nur die Fähigkeit, typisch menschliche Fehler machen zu können, schützt ihn vor der anrückenden technischen Konkurrenz und der Gefahr, schlicht wegrationalisiert zu werden. Und was spräche dagegen, nach den unzuverlässigen menschlichen Schiedsrichtern in einem nächsten Schritt auch gleich die menschlichen Spieler aus dem Match verschwinden zu lassen und RoboCup-trainierten Maschinen den Vorzug zu geben, die besser, präziser und kraftvoller kicken als ihre biologischen Vor-Läufer.

Zu viel technische Aufrüstung wäre fatal

Was würde passieren, wenn die Schiedsrichter automatisiert würden? Sieht man vom Abseits einmal ab, ist das Regelwerk des Fußballs klar und transparent wie eine Schneekugel. Das macht sein Erfolgsgeheimnis aus. Zugleich verlockt genau diese Übersichtlichkeit dazu, die Einhaltung der Regeln Kontrollchips, Sensoren und Kameras zu überlassen. Für ein Spiel wie Fußball aber wäre zu viel technische Aufrüstung fatal. Beim Stierkampf würde es auch keinen Sinn machen, der Modernisierung der Waffentechnik zu folgen und den Torero statt mit Tuch und Degen mit einer Kalaschnikow auszustatten. Allzu leichter Gewinn verdirbt die Freude am Spiel. Der amerikanische Philosoph William James sagte einmal, wenn das einzige Ziel des Fußballspiels darin bestünde, den Ball ins Tor zu bringen, dann wäre die einfachste Art zu gewinnen, den Ball in einer dunklen Nacht heimlich dorthin zu tragen.

Picasso und die Torlinientechnik

Künstler haben schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts vorausgeahnt, was kommen wird. So zeigten die Kubisten in ihren Bildern die Erscheinungen der Welt von mehreren Seiten zugleich. Ein Gesicht von Picasso, das sich zugleich von vorne und im Profil betrachten läßt, entfaltet erst heute seine ganze Modernität – in einer Zeit, in der der Fußballrasen umstellt ist von HD-Kameras und Bildanalyse-Software.

Der Fußballschiedsrichter steht inbildhaft für die alte Zeit. Er ist mit seiner singulären Sicht auf dem Spielfeld in einer wesentlich schlechteren Position als jeder Couchpotato vor seinem Bildschirm. Der Schiedsrichter betrachtete die Welt immer noch von einem individuellen Standpunkt aus, der einst für den steinzeitlichen Jäger wichtig war, um seine Beute anzuvisieren. Heute läßt er einen hoffnungslos der elektronischen Multiperspektive gegenüber ins Hintertreffen geraten. In kritischen Situationen auf dem Spielfeld muß der Schiedsrichter aus seiner subjektiven Position heraus entscheiden, obwohl ihn eine omnipräsente Medienobjektivität umgibt. Der Zuschauer sieht im Lauf der nächsten Sekunden die Situation aus einem halben Dutzend unterschiedlicher Kamerapositionen, in Zeitlupe wiederholt, von abertausend Augen begutachtet und Social-Media-kommenziert, und kann sich ein - dem Fußball angemessenes - rundes, ganzheitliches Bild machen.

Zivilisatorischer Fortschritt

Im übrigen kann die Torlinientechnik einer Befriedung des Spiels dienen, also einen Fortschritt an Zivilisation bringen. Im November 2004 verfolgte der Klub-Präsident des moldawischen Zweitligisten Roso Floreni den Schiedsrichter wegen einer vermeintlichen Fehlentscheidung minutenlang mit dem Auto über den Rasen. Erst durch einen Sprung auf die Tribüne konnte der gehetzte Referee sich in Sicherheit bringen. Das Spiel wurde nach dem Vorfall abgebrochen und mit 3:0 für die gegnerische Mannschaft gewertet.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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