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Peter Glaser: Zukunftsreich

Kopie wie noch nie!

Der Begriff „Verbraucher" hat sich in den digitalen Medien überlebt. Es gibt in der virtuellen Welt nichts mehr zu verbrauchen, keinen Verschleiß mehr. Software nutzt sich nicht ab. Das einzige, was online noch verbraucht werden kann, ist Zeit (und die damit gekoppelte Aufmerksamkeit).

Dazu kommt, dass digitale Produkte nicht mehr wie materielle Dinge durch Vervielfältigung an Qualität verlieren. Bei analogem Audio- oder Videomaterial oder Fotokopien ging mit jeder Kopie eine Qualitätsminderung einher ("Mutter-Tochter-Verlust"). Eine digitale Vervielfältigung dagegen ist stets eine weitere, identische Version des Originals. Da hat Walter Benjamin 1935 in seinem berühmten Essay über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" vom Schwinden der Aura des künstlerischen Originals geschrieben – und plötzlich gibt es nur noch Originale. In der digitalen Welt existiert die herkömmliche Unterscheidung zwischen Original und Kopie nicht mehr. Entweder eine Vervielfältigung ist mit dem Original identisch oder sie ist fehlerhaft und unbrauchbar. Einzig auf einem Zeitstrahl lassen sich die verschiedenen Originalversionen noch auseinanderhalten. Es gibt frühere und spätere Originale.

Zuhause auf der ganzen Welt: Alles ist überallhin kopiert
Ich besprach das Thema mit einem Freund, der gerade aus dem Urlaub zurückgekommen war. Er findet es inzwischen schwachsinnig, urlaubshalber wegzufahren. "Es ist wie ein Zwang. Muss Strand. Muss Sand. Muss Sonne." Er stöhnte und ließ sich, wie in eine eingedickte Nährlösung, in mein Sofa sinken. "Jetzt bleibe ich", sagte er. "Nie wieder reisen. Jetzt habe ich nämlich das Kopierprinzip verstanden."

Tatsächlich ist es zu klein gedacht, wenn man die Veränderungen in dieser Frage nur auf die digitalen Areale beschränkt. Was treibt uns in die Welt hinaus? Die Geschichte von Hans im Glück ist zu Ende erzählt. Eine Verheißung von Zuhause wird inzwischen an alle touristischen Lieblingsziele der Welt kopiert, ganz geschäftsmäßig. Deutsche Bierkneipen auf Mallorca. "Der Wienerschnitzel" in Los Angeles. Weißwurst in Bangkok. Neulich hat man Chinesen dabei erwischt, dass sie das malerische Hallstatt genau vermessen und fotografieren, um es in China originalgetreu wieder aufbauen zu können.

Japanische Touristen sind bekannt dafür, keinen unnötigen Blick auf Originalstätten zu vergeuden. Sie fotografieren und filmen alles und sehen es sich dann zu Hause ganz in Ruhe an. Es ist ein bisschen wie in dem Dialog zwischen zwei Frauen, den Marshall McLuhan in seinem Buch „Understanding Media“ wiedergegeben hat:

Freundin: "Das ist aber ein hübsches Baby."
Mutter: "Du solltest erst einmal die Fotos sehen!"

Den Dschungel anziehen
Das Kopieren ist eine äußerst erfolgreiche Zivilisationsstrategie. Mit dem Imitieren, wie das Kopieren in körperlicher Form heißt, hat die Kulturgeschichte begonnen. Wie man den Honig aus einem Bienenstock bekommt, haben Menschen wahrscheinlich den Bären abgeschaut. In Neuguinea streifen sich Urwaldbewohner mit Blumenröcken und Federhüten während ihrer traditionellen Tänze den Dschungel über. Wir wickeln uns heute in Informationen ein. Das Prinzip ist das selbe geblieben. Bei uns wird das (offene) Kopieren aber aus Schamhaftigkeit abgelehnt oder als eine niedere Tätigkeit deklassiert. Es gibt eine speziell europäische Angst, unoriginell zu sein. Diese eitle Individualität vergeudet viel Kraft für Spiegelgefechte, die verbergen sollen, wohin die Wurzeln ihrer Ideen und Gedanken führen, die am liebsten aus dem Nichts erschienen oder vom Himmel gefallen sein sollen.

„Mit seiner Haltung“, sagte mein Freund, „versaut dieser Individualismus sämtliche Ressourcen des Planeten. Er will immer nur das Echte sehen, antatschen, haben. Warum nicht sich öffnen und sagen: Ich bin eine Collage, ein Mix, ein Sample. Ich bin verbunden mit dem Ideengewebe der Welt. Ich sonne mich im fahlweißen Schein des Leuchtbalkens, der unter der Glasplatte des Scanners entlangstreicht. Ich bin der Geist der Philokopie.“

Er hatte recht. Wer plündert unseren Planeten? Es sind die Gegner der Kopie. Die, die wegen einer Original-Anmutung alles überrennen und totfotografieren. Weil alle alles selber sehen wollen und jeder überall hinwill, sieht keiner mehr irgend etwas außer Touristen. Sogar auf den Preview-Videos der Reisebüros verschwinden die Sehenswürdigkeiten mehr und mehr hinter Touristen aus aller Herren Länder, die immer gleicher aussehen, Sandalen, Bermudashorts, Schlabberhemd, Schlabberhut. Was sehen Touristen am liebsten? Andere Touristen.

Ohne Kopie keine Entwicklung
Das Internet ist der bisher umfassendste Beweis dafür, dass Originalität nicht bedeutet, dass eine Idee einsam und strahlend für sich steht, sondern dass die Dinge miteinander verbunden sind – nicht nur in der Fläche, sondern auch in der Zeit. Und sie gewinnen durch die offene Vernetzung, wie ein gut durchblutetes Organ. Die Entwicklung der Welt beruht seit jeher auf dem Kopierprinzip. Auf dem kleinen Unterschied zwischen Original und Kopie. Die Evolution basiert auf kleinen Veränderungen der jeweils nachfolgenden Generation. Ohne Kopierfehler geriete der ganze Artenreichtum in eine Sackgasse. "Und wenn die Entwicklung abhängig ist von den kleinen Unterschieden beim Kopieren", sagte mein Freund, "dann führt die digitale Kopie in ihrer Perfektion vielleicht zu einem gefährlichen Stillstand."

Während er wieder in der Sofa-Nährlösung versank, fragte er mich unvermittelt: „Was würdest du machen, wenn du dich einfach kopieren könntest?“

"Als erstes würde ich eine Sicherheitskopie von mir machen", sagte ich. "Und als nächstes würde ich mich ein bisschen überarbeiten".

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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