Lebensrettende Spione im Kopf
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© ORF/Langbein und Skalnik

Wissenschaft & Blödsinn

Mut zur Gedächtnislücke

Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas vergessen zu haben.

Unser Gedächtnis definiert unsere Persönlichkeit. Was wir lieben und was wir hassen, wer wir sind und wie wir die Welt sehen – all das ist in unserem Gedächtnis gespeichert. Meist stellen wir uns Erinnerungen vor wie ein Fotoalbum oder eine Computerfestplatte: Irgendwo liegt eine Menge Daten herum, bei Bedarf ruft man diese Daten ab und holt sie ins Bewusstsein zurück. Das stimmt aber nicht. Unser Gedächtnis ist viel merkwürdiger.

Clive Wearing war ein erfolgreicher britischer Musikwissenschaftler. Er dirigierte und leitete einen Chor, in dem auch seine Frau mitsang. Doch im Jahr 1985 wurde er von einem Virus befallen, der Teile seines Gehirns schwer schädigte. Betroffen war auch der Hippocampus, eine längliche Hirnstruktur an der Schläfe, die ganz wesentlich an der Vermittlung zwischen Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis beteiligt ist. Seither kann Clive Wearing weder alte Erinnerungen abrufen, noch neue Sinneseindrücke im Langzeitgedächtnis abspeichern. Permanent hat er das Gefühl, gerade aufgewacht zu sein. Dem Personal in seiner Pflegeeinrichtung erzählt er voller Freude, er sei nun endlich wieder bei vollem Bewusstsein und könne wieder klar denken. Und ein paar Minuten später erzählt er genau dasselbe wieder.

Clive Wearing weiß nicht wo er ist, er hat die Namen seiner Kinder vergessen und kann nicht sagen, was er in den letzten Jahren gemacht hat, doch ganz verschwunden ist sein Gedächtnis nicht. Er vermisst seine Frau, wenn sie nicht da ist, und begrüßt sie innig, wenn sie zu ihm ins Zimmer kommt – ganz egal, ob er sie monatelang nicht gesehen hat, oder ob sie nur eben mal für einige Minuten draußen war. Auch seine musikalischen Fähigkeiten sind ihm zumindest teilweise geblieben. Immer noch finden sich seine Finger auf den Tasten des Klaviers zurecht, die Musik gibt ihm die zeitliche Struktur zurück, die sein Gehirn alleine nicht mehr finden kann.

Das Hirn ist kein Computer

Wie unser Gedächtnis genau funktioniert, ist noch immer nicht ganz klar – auch wenn die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten viel darüber gelernt hat. Fest steht, dass Verschaltungen zwischen unseren Nervenzellen eine entscheidende Rolle spielen. Wenn eine Nervenzelle elektrisch aktiv ist, kann sie ein Signal an benachbarte Neuronen weitergeben. Unsere Gedanken sind nichts anderes als ein koordiniertes elektrisches Feuern eines Gehirnzellen-Netzes, innerhalb eines unüberschaubar komplizierten Gewirrs an Neuronen-Verschaltungen. Sind zwei Neuronen oft gemeinsam aktiv, wird die Verbindung zwischen ihnen stärker. So bilden sich Systeme von fester verbundenen Gehirnzellen, so entstehen letztlich auch Gedankenverbindungen, Assoziationen und komplizierte Gedächtnisinhalte.

So ist auch klar, dass unser Gedächtnis völlig anders funktioniert als ein Computer. Im Computer sind der Speicher und der Prozessor völlig unterschiedliche Dinge – im Gehirn hingegen lassen sich das Gedächtnis und das Nachdenken nicht voneinander trennen. Datenverarbeitung in unserem Gehirn funktioniert, indem die einzelnen Zellen einander aktivieren. Das Gedächtnis ist in der Stärke von Verschaltungen zwischen den Zellen gespeichert, diese Verschaltungen bestimmen also darüber, wie die Datenverarbeitung abläuft, und die Datenverarbeitung verändert ihrerseits wieder die Verschaltungen und beeinflusst somit das Gedächtnis.

Ein Computer kann dieselbe Datei hundertmal laden und auf unterschiedliche Weise bearbeiten. Die Ausgangssituation ist jedes Mal wieder dieselbe. Unser Gehirn kann das nicht – denn jede Bearbeitung muss zwangsläufig auch die ursprüngliche Information beeinflussen. Bei Gerichtsprozessen ist das ein großes Problem: Ein psychologisch geschickter Ermittler, der einen Zeugen suggestiv befragt, kann ihm Erinnerungen ins Gehirn pflanzen. Der Zeuge lügt nicht, wenn er behauptet, das rote Auto habe ganz sicher geblinkt. Die Information ist im Gehirn genauso als Verschaltung von Nervenzellen abgespeichert als wäre es eine echte visuell erfahrene Erinnerung.

Ständig unterlaufen uns Gedächtnisfehler. Wir sind überzeugt, erlebt zu haben, was uns in Wirklichkeit nur berichtet wurde, wir haben verdrängt, was wirklich geschah, haben und ins Gedächtnis gegraben, was wir gerne für wahr halten möchten. Das ist nicht schlimm. Wir müssen nur lernen, unserem Gehirn ein bisschen zu misstrauen.

Der Mann, der nie vergaß

Dass ein perfektes Gedächtnis auch seine Probleme mit sich bringen kann, zeigt die Geschichte von Solomon Shereshevsky, einem russischen Gedächtniskünstler. Er konnte sich problemlos lange Zahlenreihen merken, doch er konnte sie nicht wieder vergessen. So sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, den nutzlosen Erinnerungsballast wieder loszuwerden. Shereshevsky versuchte, die Zahlen auf Papier zu schreiben und zu verbrennen, doch auch wenn das Papier zu Asche zerfiel, in seinem Kopf blieben die Zahlen eingebrannt.

Shereshevsky war Synästhet, unterschiedliche Sinneseindrücke waren bei ihm eng verbunden. Daher konnte er besonders lebhafte Assoziationen knüpfen – die Zahl eins war für ihn ein stolzer, gut gebauter Mann, die Zahl zwei eine übermütige Frau. Solche komplexen Assoziationen, wie sie Shereshevskys Gehirn ganz von selbst hervorbrachte, werden auch heute von Gedächtniskünstlern bewusst eingesetzt, um bei Wettbewerben unglaubliche Merkleistungen zu vollbringen.

Solomon Shereshevsky konnte diese Fähigkeit aber nicht ausschalten, und so war er überwältigt von der Wucht seiner eigenen Erinnerungen. Es fiel ihm schwer, zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen zu unterscheiden, mit metaphorischer Sprache oder Poesie konnte er nicht umgehen.

Vielleicht sollten wir ganz froh sein, dass unser Gedächtnis so merkwürdig und unzuverlässig funktioniert. Vielleicht spielt genau diese Ungenauigkeit eine Rolle für Kreativität und Intelligenz? Ein Gehirn soll arbeiten und sich etwas Neues ausdenken. Zum bloßen Abspeichern unveränderlicher Information ist unser wunderbares Denkorgan viel zu schade. Genau dafür haben wir ja Notizbücher und Computerfestplatten.

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen schreibt er jeden zweiten Dienstag in der futurezone.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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