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Sinnlos-Surf-Syndrom: Raus aus der Mausefalle

Was ist das Sinnlos-Surf-Syndrom? Zielloses, zwanghaftes Internet-Surfen, das zu gravierendem Zeit-, Konzentrations- und Produktivitätsverlust führt, der von Betroffenen nicht wahrgenommen wird. Endstation: geistiger Festplatten-Crash durch Reizüberflutung. Sinnlos-Surf-Syndrom wurde früher auch als „Recherchieren“, „Arbeiten“ und „nur-mal- kurz-im-Internet-nachsehen“ bezeichnet.

Woher kommt das Sinnlos-Surf-Syndrom?
Wissenschaftler sagen: Das Sinnlos-Surf-Syndrom kommt aus unserem Hirn. Das arbeitet heute noch mit „Steinzeit-Konfiguration“. Diese bewirkt, dass wir auf Reize mit Aufmerksamkeit reagieren. Ein beliebter Steinzeit-Reiz war zum Beispiel der Bär – Killer oder Abendessen. Und weil früher jeder Reiz der letzte sein konnte, schüttet unser Hirn seit Urzeiten als Reaktion den Botenstoff Dopamin aus. Je mehr Reize, desto mehr Dopamin. Wenn wir surfen und vielleicht noch parallel chatten, dann zündet ein Dopamin-Feuerwerk in unserem Hirn – und danach wird es süchtig, populärwissenschaftlich ausgedrückt. Mehr Dopamin heißt: mehr Reize. Also öffnen wir die Grenze ins Sinnlos-Reich. Ein gesunder Mensch nimmt nur zehn Prozent aller Umweltreize bewusst wahr. Ein Sinnlos-Surfer zehn Prozent aufwärts. Wenn kein Reiz kommt, suchen wir ihn selbst. Wir bewerten nicht mehr, was wichtig oder nichtig ist, klicken bis zum Hirnverlust und vergeuden Arbeits- und Lebenszeit.

Kennen Sie die 47. Webseite hinten links?
Hand auf die Maus: Wie oft finden Sie sich nach einer Google-Suche auf der 47. Webseite von hinten links und fragen sich zerstreut, was Sie vor einer guten Stunde eigentlich suchen beziehungsweise finden wollten? Arbeitgeber kostet dieses Sinnlos-Surfen Millionen Euro – und damit Profitabilität und Arbeitsplätze. Sie persönlich gewinnen auch nicht viel, denn neben dem gesunden Bedürfnis nach ein bisschen Spaß und Entspannung durch Ablenkung, macht die permanente Nabelschau süchtig. Süchtig nach Anerkennung – und Ablenkung, ein Fall für den Dislike-Button. Dabei könnten Soziale Netzwerke wie Facebook und das Internet per se so vieles zu unserem täglichen Wissensvorsprung beitragen – vorausgesetzt, wir haben klare Surf-Ziele und die Netzwerke zu unserem Vorteil konfiguriert.

Google Pac Man frisst 4,82 Millionen Arbeitsstunden
Die Realität sieht anders aus. Im Mai 2010 konnte die Welt anlässlich des 30. Geburtstags des Videospiel-Klassikers Pac Man selbiges als Mini-Game mit dem Google-Logo auf der Startseite der Suchmaschine spielen. Die Zeiterfassungs-Software „Rescue Time“ bilanzierte: Das Spiel hat 4,82 Millionen Arbeitsstunden aufgefressen und damit rund 120 Millionen Dollar Arbeitslohn gekostet. Mit dieser Summe hätte man rund 20.000 Google-Mitarbeiter sechs Wochen lang mieten können – ein Jackpot für jeden Internet-Unternehmer.

Nur mal kurz nachsehen, ob Facebook noch steht
Fragen Sie mal einen Facebook-Freund, wie oft er „nur mal kurz seine Pinnwand checkt“ – natürlich nur um sich zu vergewissern, dass Facebook noch steht, während er arbeitet. Die gängige Antwort ist „drei bis vier Mal am Tag“. Dann sehen Sie sich die durchschnittliche Verweildauer von Facebook-Besuchern an und entdecken, dass „nur mal kurz … “ im Schnitt 20 Minuten pro Facebook-Besuch sind und Facebook diese Besuchszeit Werbekunden gewinnbringend unter die Kleinanzeigennase reibt. Nie vergessen: Wenn etwas gratis ist, sind wir das Produkt, das verkauft wird.

Studenten auf hartem Internet-Entzug
Das Verschwinden eines realistischen Zeitgefühls beim Surfen wird in jedem Selbst-Tests zum Thema Internet-Sucht gelistet. Je jünger die Surfenden, desto notwendiger scheint die Standleitung ins Weltweitnetz, desto problematischer das Abschalten. 200 Studenten im Alter von 18 bis 21 Jahren zeigten bei einem Test der Universität Maryland nach verordneter Internet-Abstinenz dieselben Entzugserscheinungen wie Alkoholabhängige. Die Studenten mussten einen Tag auf Soziale Netzwerke, E-Mail und Handy verzichten. Besonders schwer fiel der Verzicht auf Soziale Netzwerke. Ein Leben ohne Facebook und Co. sei für die Studenten gleichbedeutend mit einem Leben ohne Freunde und Familie, erklärte die Studienleiterin. Wer „always-on“ ist, ist nie wirklich präsent. Unter den Folgen leiden auch gestandene Erwachsene: Die Worte „Internet“, „Handy“ und „Facebook“ zieren inzwischen jede vierte Scheidungsklage in den USA – Tendenz steigend.

Test: Wie viel Sinnlos-Surf-Syndrom steckt in Ihnen?
() Pro Schreibtisch-Arbeitsstunde gehen Sie mindestens einmal online.
() 50 Prozent Ihres Büro-Surfens ist privater Natur.
() Sie klicken öfter am Tag als Sie schlucken.
() Sie verbringen mehr Zeit im Internet als mit Ihrer Familie.
() Wenn Sie darüber nachdenken, bekommen Sie ein schlechtes Gewissen.
() Weil Sie sich im Web „vergessen“ haben, kommen Sie manchmal zu spät.
() Es fällt Ihnen schwer, 24 Stunden offline zu sein.
() Wenn Sie etwas erleben, denken Sie sofort an Ihre Facebook-Pinnwand.
() Sie wissen nicht, welche Links gestern zu Ihrem Erfolg beigetragen haben.
() Sie begrüßen YouPorn-Darsteller auf der Straße und bitten um Autogramme.
() Mit einem Therapeuten sprechen Sie erst, wenn er Ihre Freundschafts-anfrage bestätigt hat.

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ALARMSTUFE EINS:
Sie surfen sich zwar noch nicht um den Sinn, zeigen aber bereits erste Anzeichen dafür. Und da ich davon ausgehe, dass Sie beim Ankreuzen schummeln: Installieren Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit einen unabhängigen Produktivitätszeit-Schiedsrichter wie www.rescuetime.com. Trennen Sie strikt zwischen produktivem Surfen („recherchieren“), Spaß-Surfen (Soziale Netzwerke) und Verlegenheits-Surfen („nur mal kurz …“).

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WEBWEH IST IHR NEUES HEIMWEH:
Wenn ein Taxifahrer Sie nach Ihrer Adresse fragt, antworten Sie bereits nach drei kleinen Bierchen „www.home.com“. Dass Sie anschließend „nackt und orientierungslos“ von falschen Facebook-Freunden „im Internet gefunden“ werden, wundert Sie nicht. Das passiert Ihnen öfters. Hören Sie sofort auf, zu viel Ihrer Lebenszeit im Netz zu vergeuden! Oder glauben Sie an Wiedergeburt?

Erste Hilfe: Analysieren Sie Ihr Lebenszeit-Budget
Rechnen Sie einfach mal nach: Wenn Sie an 365 Jahrestagen im Schnitt vier Stunden surfen, sind das in Summe 1.460 Stunden. Abzüglich acht Stunden Schlaf pro Tag sind das 91,25 Tage im Jahr. Sie verbringen demnach ein Viertel Ihrer aktiven Lebenszeit im Internet. Das ist so viel, dass Sie aus egoistischen Hedonismus-Gründen alles dafür tun sollten, dass Sie ein Maximum aus dem Internet rausholen. Dafür ist es angetreten, dafür lieben wir es. Wenn Sie besonders gemein zu sich sein möchten, dann rechnen Sie mal kurz nach, wie viel Lebenszeit Sie mit Sex verbringen. Und dann stellen Sie sich die Frage, wie viel Zeit Sie damit verbringen, Ihr Sexleben zu hinterfragen. Wenn Sie diese Bilanz gezogen haben, nehmen Sie sich kurz Zeit, Ihr Surf-Verhalten kritisch zu analysieren. Fakt ist: Sie investieren viel Lebenszeit ins Surfen, sichern Sie sich Ihren RoI, Ihren Return on Internet-Investment!

Beuten Sie das Internet aus
Machen Sie keinen Klick, wenn er Ihnen keinen Gewinn verspricht. Investieren Sie nicht länger wertvolle Lebenszeit in Webseiten, die Ihnen nichts bringen, außer Zeitverlust. Zeit ist Lebenszeit, daran kann man nicht oft genug erinnern – denn: weder Ihre noch meine kehrt wieder.

Das Web zahlt kein Weihnachtsgeld
Eine Stunde Wolkenbilder interpretieren oder Strand-Sand zählen kann so viel spannender sein als eine Stunde Ex-Partner auf Facebook zu stalken! Hören Sie bitte auf, aus fehlender Inspiration, durch Soziale Netzwerke angefixter Spannerlust, geistiger Erschöpfung, unersättlichem Recherche-Zwang, purer Langeweile oder innerer Leere zwanghaft Ablenkungsheil im Web zu suchen.

Das bringt Ihnen nichts und wird die Welt nicht retten. Das Web zahlt Ihnen kein Weihnachtsgeld. Sie können es nicht heiraten. Es wärmt nicht im Winter. Seine Freuden sind so vergänglich wie Sie.

Konzentrieren Sie sich auf Ihre Top 10
Welche zehn Webseiten-Kategorien bringen Ihnen den größten Return on Internet-Investment – maximalen Nutzwert als Gegenleistung für die Zeit, die Sie investiert haben? Beliebte Kategorien sind: News, Wissen, Tools, Applikationen, Datenbanken, Soziale Netzwerke, Experten-Blogs etc. Strukturieren Sie Ihre Lesezeichen-Ordner nach diesen Themen.

Damit Ihr Ziel Maß hat, speichern Sie im jeweiligen Ordner nur die Top 10-Links der jeweiligen Kategorie. Und dann…

Kappen Sie die Nabelschnur
Welche Nabelschnur? Richtig gedacht. Das ist Teil eins dieser Regel: Das Internet ist NICHT Ihre Nabelschnur. Sie sind ein autonomer Mensch mit Hirn und Herz. Blut ist dicker als Datenleitung.

Es ist einfacher als Sie denken oder berfürchten: Das permanente Online-sein hat sich in Ihr Leben geschlichen. Sie haben zugelassen, dass es von der Möglichkeit zur Notwendigkeit wird. Jetzt ist ein Bedürfnis da. Wie es gekommen ist, kann es wieder verschwinden. Nicht das Internet, das ist an und für sich ganz hervorragend. Aber die Notwendigkeit seiner ständigen Verfügbarkeit – die muss weg.

Fixe Surf-Zeiten, fixe Surf-Ziele
Sie haben E-Mail-Öffnungszeiten definiert? Gut. Jetzt definieren Sie fixe Surf-Zeiten. Das klingt nur beim ersten Lesen so entmündigend nach Kindersicherung und Jugendschutz – dabei sind Sie ganz sicher über 18. Leider, leider: der Geist ist willig, Ihre Finger sind schwach. Glauben Sie mir: Es geht nicht ohne. „Ich werde ab morgen weniger sinnlos surfen“ ist genauso erfolgversprechend wie „Ich werde ab morgen weniger naschen, Alkohol trinken oder rauchen“.

Sind Sie bereit? Three times a day …
Definieren Sie drei fixe Surf-Zeiten am Tag. Wie wäre es mit morgens (nachdem Ihre Prioritäten geplant sind!), mittags (wenn die Schwerkraft des Kantinen-Essens Sie ins Nirwana zieht) und abends, gemütlich zuhause auf dem Sofa mit dem klaren Ziel „Spaß-Surfen“. Wie soll das gehen?

Sie googeln doch bereits Ihren nächsten Gedanken?
Alternative: Sie verpassen sich ein Surfzeit-Budget. Maximal 120 Minuten pro Tag. Wenn Ihnen das sehr wenig erscheint: Bei 16 wachen Tagesstunden kommen Sie damit immer noch auf 45 Tage, die Sie pro Jahr im Internet verbringen! Wer hilft Ihnen dabei? Zeiterfassungs-Software wie www.rescuetime.com.

Anlässlich ihrer Buchveröffentlichung „E-Mail macht dumm, krank und arm“ hat Autorin Anitra Eggler eine mehrteilige Serie zum Thema Digitale Kommunikation für die futurezone verfasst. Eine 77-seitige Leseprobe des Buches findet sich auf Slideshare.

Anitra Eggler (38) ist Autorin, FH Dozentin und Expertin für digitale Kommunikation, Marketing, Medien und PR. Sie war als Journalistin, Start-up-Managerin, Kreativdirektorin, Agentur-Chefin und zuletzt Online-Verlagsgeschäfts-führerin tätig.  Sie hat in Passau Kulturwirtschaft und Journalismus studiert und in München den ersten Internet-Boom an vorderster Front erlebt. Im Jahr 2010 wurde Anitra Eggler von Österreichs Frauenzeitschrift „Woman“ zur Nummer eins der Kategorie „Werbung und PR“ gekürt.

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