© Jürg Christandl, Kurier

Peter Glaser: Zukunftsreich

Wahnsinnsphänomene

Der Hype um die Hypes begann Anfang der Neunzigerjahre. Der Google Ngram Viewer, mit dem sich Worthäufigkeiten über lange Zeiträume verfolgen lassen, zeigt für den deutschsprachigen Raum einen raketenartigen Start des Begriffs Hype hinauf in die Beliebtheitsstratosphäre. Auch wenn es Hypes in vielen Bereichen gibt, von Mode bis Management, sind sie dennoch eng mit den Überraschungspotentialen des Internets verbunden. Bemerkenswerte Massenphänomene im Netz sind einfach Internet-Hypes.

Die Neunzigerjahre - vom Urknall des Internet, das in eine staunende Weltöffentlichkeit hinausexplodierte, bis zum Kollaps der Dotcom-Blase - waren das Jahrzehnt der unschuldigen Hypes. Alles glitzerte vor Möglichkeiten. Niemand wollte sich damit zufriedengeben, einfach nur Hardware oder Software zu verkaufen. Es ging um Visionen, um neue, verheißungsvolle Zukunftskonzepte, von denen viele dann in den nachfolgenden Jahren in der Realität notlanden mußten.

„Ihr habt uns fliegende Autos versprochen“, beklagt sich PayPal-Mitgründer Peter Thiel heute, „stattdessen haben wir Twitter bekommen.“ Beides gehört zum Hype, die Euphorie wie auch die Ernüchterung.

Mitmachwilligsten unter den Mitmachwilligen im Netz

Hypes sind Phänomene, mit denen eine vernetzte Gesellschaft sich selbst überrascht. Am 31. Mai 2014 erreichte „Gangnam Style“, eine lustige Disco-Darbietung des südkoreanischen Rappers Psy, zwei Milliarden Klicks auf YouTube und wurde damit das meistgesehene Video überhaupt. YouTube nahm mit dem Werbevorspann nur für diesen einen Clip rund sechs Millionen Euro ein, eine Million davon ging an den Künstler. Planbar ist ein solcher Hype aber nicht. Der Auslöser muß einen Nerv treffen und die Mitmachwilligsten unter den Mitmachwilligen im Netz ansprechen. Bei „Gangnam Style“ war es die amerikanische Sängerin Katy Perry, die den Clip an ihre damals 25 Millionen Follower retweetete.

Iim Gegensatz zu den etwas hysterischen Hypes wird Trends eine gewisse Gelassenheit attestiert. Der Hype ist sozusagen ein pubertierender Trend – aufgeregt, quietschvergnügt und neugierig. Während der Hype als kurzlebige, aufgebauschte Nachricht wahrgenommen wird, gilt der Trend als authentischer Hinweis auf eine sich abzeichnende Veränderung. Mit der gern angestellten Vermutung, dass Trends zeitlich stetig verlaufen, sollte man allerdings vorsichtig sein. So gibt es derzeit weltweit etwa 85.000 Elvis-Imitatoren; vor 20 Jahren waren es 170. Würde dieser Trend anhalten, bestünde 2019 ein Drittel der Weltbevölkerung aus Elvis-Imitatoren.

Der Cycle, der keiner ist

1995 wurde der Hype Cycle erfunden. Jackie Fenn, Mitarbeiterin des Marktforschungsunternehmens Gartner, präsentierte ein Diagramm, auf dem in fünf verschiedlichen Phasen der Aufmerksamkeitsverlauf bei der Einführung neuer Technologien dargestellt wurde – vom „Trigger“, der das Ganze auslöst, hinauf auf den „Gipfel der überzogenen Erwartungen“, desillusioniert hinab ins „Tal der Enttäuschungen“, von dort still ansteigend auf den „Pfad der Erleuchtung“ und schließlich das „Plateau der Produktivität“, auf dem - sofern die Technologie einen Markt findet - ihre Vorteile endlich allgemein anerkannt werden.

Der Hype Cycle bietet die Möglichkeit, eine Übersicht über Technologien zu geben, die sich entlang eines größeren Trends versammeln. Die Einordnung beruht auf den Einschätzungen der Studien-Autoren und ist „recht subjektiv“, wie Fenn einräumt. Sie selbst hat gleich bei ihrer ersten Präsentation kräftig danebenprognostiziert. Bereits auf dem absteigenden Ast befand sich nach ihrer Auffassung der „Information Superhighway“ – das Internet. Auch scheinen die blumigen Bezeichnungen der fünf Hype Cycle-Phasen die meisten Menschen so zu becircen, dass niemand sich mehr zu fragen scheint, weshalb es eigentlich Hype Cycle heißt, obwohl es sich gar nicht um Zyklen handelt (sondern um eine Welle).

Nicht der Erste sein und nicht der letzte

Hypes entziehen sich weitgehend der Kontrolle, sie wollen sich ungern definieren lassen und bleiben lieber im Ungefähren. Diese Eigenschaften haben Hypes mit guten Programmierern gemeinsam. Es gibt in den Sozialwissenschaften eine Disziplin, die sich mit der Ausbreitung von Neuerungen beschäftigt. Dort wird gern der englische Dichter Alexander Pope zitiert: „Sei nicht der erste, der das Neue nutzt und nicht der letzte, der vom Alten läßt.“ Hypes sind, mit anderen Worten, auch eine Frage des richtigen Timings.

Manchmal stehen auch die Innovatoren blind vor der eigenen Schöpfung. „Mit YouTube werden wir nicht weit kommen“, befand Steve Chen im März 2005. „Es gibt da einfach nicht genug Videos, die ich sehen möchte.” Chen ist einer der drei Gründer von YouTube, damals waren ungefähr 50 Videos verfügbar. Zwei Jahre später wurde die Plattform für 1,65 Milliarden Dollar an Google verkauft.

Die Dinge, die den Lauf der Welt verändern

Kein großes technologisches Konzept hat sich so entwickelt, wie sich das seine Urheber vorgestellt haben. Der phantastische Siegeszug des Personal Computers etwa erinnert an den Erfolg einer anderen sonderbaren Erfindung der siebziger Jahre: Slime – grüner Schleim in einer kleinen Plastikmülltonne. Es muß einen Moment der Kühnheit gegeben haben, in dem jemand beschloß, ekliges, grünes Zeug in Plastikmülleimern zu verkaufen und damit reich zu werden. Ahnlich müssen sich die Erfinder des Mikrocomputers eines Tages etwas gesagt haben wie: „Laß uns allen Menschen kleine Maschinen verkaufen, mit denen man feindliche Funksprüche entschlüsseln und Verwaltungsvorgänge automatisieren kann.” Viel mehr wurde damals mit Computern noch nicht gemacht.

Das sind die Dinge, die den Lauf der Welt verändern. Manchmal etwas Schneller oder Wunderlicher als sonst – dann nennt man sie Hypes. Das ist Fitnesstraining für die Begeisterungsfähigkeit. Als Dauerzustand ist Faszination aber zu anstrengend. Wer Leuten wie Melinda Gates oder Richard Branson auf Twitter folgt und an deren Dauerhingerissensein ermüdet, weiß, was gemeint ist. Spektakuläres verklingt nach einer Weile wieder, aber an seinen leuchtenden Spuren finden wir erstaunlicher Weise immer wieder Gefallen. Über längere Strecken erträglich ist diese Gemütsverfassung aber nur für Verliebte.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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