© Jens Kalaene, dpa

Peter Glaser: Zukunftsreich

Wirklichkeit wie Wurstscheiben

1935 verfaßte der Philosoph und Schriftsteller Walter Benjamin einen längst legendären Aufsatz unter dem Titel „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Es geht darin um den Wandel der Kunst durch die damals neuen Medien Fotografie und Film. Die Möglichkeit der massenhaften Reproduktion, so der zentrale Gedanke, würde Kunstwerken, die herkömmlich Einzelstücke waren, die Aura des Originals nehmen.

Virtuelle Sofas

Nun kehrt die von Benjamin betrauerte Aura zurück, und nicht nur die des Kunstwerks, wiederum getragen von einer neuen Technologie, diesmal der digitalen. Nun heißt sie Augmented Reality (AR) - erweiterte Realität. Anders als bei der virtuellen Realität (VR), in die man ganz eintaucht, fügt AR dem, was man herkömmlich als Realität wahrnimmt, nur ein paar weitere Informationen oder Signalebenen hinzu, wie Wurstscheiben, bloß unsichtbar. Anwendungen für diese erweiterte Realität sind etwa eingeblendete Bandenwerbung bei Sportveranstaltungen oder die Möglichkeit, seine Wohnung probeweise mit Möbeln einzurichten, indem man die Räume durch die Kamera seines Smartphones betrachtet und sich mit einer App die passenden Einrichtungsgegenstände in 3D dazu einblenden läßt.

Google Glass, zweiten Anlauf

Bekanntestes Beispiel eines AR-Systems ist Google Glass. Auch die vielkritisierte Datenbrille legt neue Ebenen über die sichtbare Welt, Richtungspfeile in einem Navigationsprogramm für Fußgänger etwa, die aktuellen Wetterdaten oder eine gerade eingetroffene E-Mail. In den USA hatte Google die sogenannte Explorer Edition der Brille allerdings im Januar 2015 vom Markt henommen und damit indirekt eingestanden, dass die Einführung des spektakukären Spekuliereisens übereilt gewesen war. Nun soll die Entwicklung fortgeführt werden in einem neuen Projekt – mit dem Namen „Project Aura“.

Mit dieser körpernahen Technologie, die uns nun mit Smartphones, Smartwatches und Fitnesstrackern bereits auf den Pelz gerückt ist, umgeben wir uns mit einer Daten-Aura. Diese informatische Erweiterungen unserer selbst können wir auch mit anderen teilen. Wir können ihnen zeigen, wo wir sind, welche Strecke wir gerade entlanggelaufen sind und wenn wir möchten auch, wie unser Herz gerade schlägt.

Hearing with an earring

Im kalifornischen Almaden Research Center von IBM hat die Juwelierin Denise Chan mit einem Wissenschaftlerteam bereits vor längerer Zeit angefangen, smarten Schmuck zu entwickeln – kleine Lautsprecher in Ohrclips anstelle von Telefonhörern etwa („Hearing with an earring“) oder farbig pulsierende Ringe, die anzeigen, dass jemand anruft. Mode spielt eine wichtige Rolle, um Technologie freundlicher, nützlicher und attraktiver zu machen. Die Preziosen gehörten zu den vielfältigen Versuchen, sie möglichst nahtlos in den Alltag zu integrieren.

Jetzt wird der analoge Schmuck komplett digitalisiert. In dem Blog Sickfuture ist eine mögliche Zukunft der Halskette zu bewundern: elegante Lichtspuren am Hals einer Frau, wie von winzigen Meteorschwärmen, die nur für denjenigen zu sehen sind, der ein AR-taugliches Gerät besitzt. Der Möglichkeiten sind viele. Man könnte seinen Schmuck in dieser Form sogar so individualisieren, dass jeder Betrachter etwas anderes zu sehen bekommt. Während das Date eine prachtvoll funkelnde Kopie des Koh-i-noor-Diamanten bewundern darf, sollen die Freunde, die man zuvor noch trifft, nicht durch zu viel Gepränge beunruhigt werden und sehen etwas, das schick, aber reduziert ist...

Es könnte Probleme wie beim 3D-Druck geben, wenn man seiner Daten-Aura die perfekte Illusion eines Meisterstücks hinzufügen möchte und sieht, dass es aus Copyrightgründen nicht geht. Warum aber sollte man einen solchen Datensetz, einen herrlichen Hauch von Licht, nicht kaufen?

Manche stellen sich die Schönheit von morgen noch viel radikaler vor. Warum als unvollkommene Erscheinung auftreten, wenn es auch vervollkommnet geht, sozusagen Photoshop in Echtzeit? Das, was heute noch auf Plakaten und Werbeanzeigen als unerreichbare Attraktivität präsentiert wird, soll künftig - AR sei Dank - jedermann höchstpersönlich zur Verfügung stehen. Makeup und modische Verschönerung waren gestern – in Zukunft können wir als komplette Illusion auftreten. Und Walter Benjamin könnte ein Update seines Essays schreiben, in dem die Aura über die Realität siegt.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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