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Wahlkampf

"EU muss gegen digitalen Totalitarismus vorgehen"

"Die EU muss gegen den drohenden digitalen Totalitarismus vorgehen. Es reicht nicht, technische Fragen zu diskutieren und die Infrastruktur auszubauen, wir brauchen ein Konzept, das die Gefahr der Entmündigung der Bürger aufgrund wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Interessen bekämpft. Das muss diskutiert werden", eröffnet EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, der sich im Mai um das Amt des Kommissionspräsidenten bewirbt, am Montag die Podiumsdiskussion im Wiener Museumsquartier. Seine Partei, die Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament, haben die Diskussion im Zuge des EU-Wahlkampfs organisiert, hauptsächlich um ihrem Spitzenkandidaten die Möglichkeit zu geben, seine Ansichten zur Netzpolitik zu erklären.

Laut Schulz wird die größte Herausforderung für die Sozialdemokratie in den kommenden Jahrzehnten sein, zu verhindern, dass der Mensch durch die digitale Technologie und die damit einhergehende Datensammelwut von Firmen und Regierungen zum reinen "Wirtschaftsobjekt mit Ohren" werde.

Guardian-Journalist Ian Traynor hält dem entgegen, dass der diesbezügliche Spielraum auf europäischer Ebene begrenzt sei: "Wir wussten immer, dass Spione spionieren, der Snowden-Skandal hat aber gezeigt, in welchem ungeheuren Ausmaß EU-Bürger ausgespäht werden. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass dabei auch Mitgliedsländer beteiligt waren. Die einzelnen Staaten haben anscheinend kein großes Interesse an entsprechenden Regelungen. In Deutschland hat es Monate gedauert, bis eine parlamentarische Anfrage sich mit der Bespitzelung der Kanzlerin beschäftigt hat." Dem stimmt auch Andreas Krisch, Präsident von European Digital Rights, zu. Fehlende Regeln seien nicht das Problem, so Krisch. "Wir haben auf dem Papier seit den 90er-Jahren hohe Standards was Datenschutz angeht, aber die Behörden haben nicht die Mittel und Rechte, die Bestimmungen durchzusetzen. Deshalb gibt es flächendeckend praktisch keinen Datenschutz", so der Privatsphären-Aktivist.

"Lange unterschätzt"

Auch Martin Schulz gibt zu, die Datenschutz-Thematik lange unterschätzt zu haben. "Ich habe das als ein Thema unter vielen gesehen. Erst mit Zeitverzug habe ich die Dimension erkannt. Nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September gab es in der westlichen Welt einen Paradigmenwechsel in der Sicherheitspolitik. Überwachung und das Sammeln von Vorfelderkenntnissen wurden zentrale Werkzeuge, um die Bürger zu schützen. Wenn aber jede Infragestellung dieses Systems als Angriff auf die Sicherheit gesehen wird, stimmt etwas nicht. Ich glaube, dass beides möglich ist, Sicherheit für die Bürger und die Wahrung der Grundrechte", erklärt Schulz.

Dazu muss der Datenschutz aber stärker in den Fokus gerückt werden. "Davon könnte auch die Wirtschaft profitieren. Die europäische IT-Industrie könnte mit Datenschutz-Technologie weltweit Geld verdienen, das ist eine große Chance, nicht nur im privaten Bereich, sondern auch bei der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit. Derzeit kämpft jeder gegen jeden um Daten, wir brauchen ein sicheres Umfeld, um das Vertrauen wiederherzustellen", sagt Krisch. Gegen zu viel Regulierung regt sich aber von verschiedenen Seiten Widerstand. Rundfunkanstalten sehen sich etwa von bestehenden Bestimmungen eingeengt. "Das Internet ist die stärkste demokratische Kraft, die wir haben. Datenschutz ist nur ein Aspekt, wir brauchen eine Debatte über die Regeln, die wir festlegen wollen, auch mit Google und Co. Dass YouTube Enthauptungsvideos zeigt oder der ORF keine sozialen Medien nutzen darf, ist diskussionswürdig. Regeln, die vielleicht nicht die gewünschte Wirkung haben, schränken Medienhäuser und andere Firmen ein und verhindern Innovation. So können europäische Firmen nicht mitspielen in der digitalen WIrtschaft", führt Ingrid Deltenre von der European Broadcasting Union aus.

Google bestimmt Dorftrottel

Die marktbeherrschende Stellung der US-Unternehmen im Netz ist auch der Politik ein Dorn im Auge. "Daten sind ein Wirtscfhaftsgut, das derzeoit quasi monopolisiert in den Händen von US-Firmen liegt. Diese Konzerne sind aber nicht Schuld. Die EU-Konkurrenz hat hier vergessen zu investieren, wir lassen diese Monopolstellungen zu. Problematisch ist, dass das Netz nichts vergisst. Es muss ein Grundrecht auf Datenlöschung für Nutzer geben, die nicht wollen, dass marktbeherrschende Unternehmen Informationen über sie sammeln. Hier ist die EU-Kommission gefordert", sagt Schulz. Heute seien US-Firmen nicht einmal bereit, zu Sagen wie und auf welcher Basis sie Daten verwenden. "So geht für einzelne die Kontolle verloren. Ob ich bei Google zuerst als Parlamentspräsidenten oder als Dorftrottel aufscheine, liegt nicht in meiner Hand. Das entscheidet jemand in Silicon Valley oder gar ein Algorithmus. Für Firmen gilt dasselbe. Hier sind ökonomische interessen und Grundrechte bedroht", so der sozialdemokratische Spitzenkandidat weiter.

Die US-IT-Industrie sieht das naturgemäß etwas anders. "Die Algorithmen, die entscheiden, was wichtig ist, reflektieren immer die Meinung der Mehrheit der User", sagt James Waterworth, Sprecher der Computer and Communications Industry Association Europe. Die Politik sieht das etwas anders. "Die Bewertung von Unternehmen oder Personen im Netz ist nicht Sache von Bürgern in den USA, sondern muss den Betroffenen obliegen", kontert Schulz. Dass auch Unternehmen vor möglicherweise willkürlichen Bewertungen geschützt werden, soll vor allem verhindern, dass ihnen ein Wettbewerbsnachteil entsteht. "Chancengleichheit ist nicht nur gegenüber US-Firmen sondern auch innerhalb der EU wichtig. Deshalb muss auch die Netzneutralität aufrecht erhalten werden, um gleiche Voraussetzungen für alle zu garantieren, sonst haben kleine Unternehmen und Private keine Chance gegen Konzerne. Deshalb dürfen solche digitalen Grundrechte auch nicht Thema der Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen EU und USA sein", betont Krisch. Im EU-Parlament sieht man das ähnlich. "Es gibt einen Konsens der großen Fraktionen darüber, dass Themen wie Datenschutz nicht im Freihandelsabkommen verhandelt werden. Wenn die USA unsere Standards nicht im Voraus akzeptieren, gibt es keine Gespräche", so Schulz.

Digitale Demokratie

Das politische Potenzial der zunehmenden technologischen Vernetzung von Bürgern, unternehmen und Institutionen schätzen die Podiumsteilnehmer durchwegs als hoch ein. "Eine EU-Öffentlichkeit ist enorm wichtig, vor allem durch die Sprachbarrieren gibt es hier aber Probleme. Hier müssen die Medien sich stärker untereinander vernetzen. Nur so kann einer Instrumentalisierung des Netzes für Zensur und Propaganda entgegengewirkt werden. Kritische Medien, die Hintergrundinformationen und Kontext liefern, werden hier - möglichst auf einer europäischen Plattform - weiterhin eine wichtige Rolle spielen", so Deltenre. Damit die Medien die Bürger auch erreichen, müsse auch die technische Infrastruktur entsprechend ausgebaut werden und für alle nutzbar bleiben, so der Konsens auf dem Podium.

"Netzneutralität ist enorm wichtig. Sie schafft die Voraussetzung für eine kreative Explosion im Internet, die traditionelle Medien ergänzen kann. Usergenerierte Inhalte sind ebenso wichtig wie jene der Medienhäuser, die ja auch nie neutral waren", erklört Waterworth. Damit eine europäische Öffentlichkeit im Netz entstehen kann, muss aber vor allem der Zugang für alle Bevölkerungsgruppen gewährleistet werden. "Die Gefahr, dass eine digitale Kluft entsteht, ist gegeben. Der Zugang zum Internet ist eine Gleichberechtigungsfrage, da die Digitalisierung schon alle Lebensbereiche beeinflusst. Die erforderlichen Kompetenzen müssen insbesondere in den Schulen vermittelt werden", sagt Schulz. Für die Politiker selber sei das Netz eine Herausforderung, da einerseits zwar die Interaktionsmöglichkeiten anstiegen, andrerseits aber auch der Druck, zu jeder Entwicklung sofort eine passende Antwort parat zu haben, so der Parlamentspräsident weiter.

Snowden-Asyl nicht einfach

Das EU-Parlament hat Asyl für Snowden in Europa gefordert. Schulz gibt aber zu, dass die Situation kompliziert ist: "Bei einem Antrag müsste das betroffene Land prüfen, ob Snowden die Voraussetzungen erfüllt. Das hieße auch, darüber zu urteilen, ob er in den USA politisch verfolgt wird - ein sehr heikles Verfahren. Das weiß Snowden auch, weshalb er bislang zögert. Die Forderung nach Asyl unterstütze ich nach wie vor, umzusetzen ist sie freilich schwierig." Dass Snowden tatsächlich Asyl bekommt, ist also weinig realistisch. "Wir sollten weg gehen vom Asyl und überlegen, mit welchen diplomatischen Maßnahmen wir Snowdens Situation verbessern können", so Krisch.

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