Evgeny Morozov
Evgeny Morozov
© Stephan Löcke/Soeterbeeck Program

Interview

Evgeny Morozov: “Es gibt keine Alternative zu Google”

Die futurezone hat den weißrussischen Technologiekritiker Evgeny Morozov in Wien zum Interview getroffen und ihn über seine Ansichten zur zunehmenden Vernetzung und Appifizierung der Welt befragt. Morozov plädiert im Gespräch für die Einrichtung von öffentlichen Datensammlungen als Alternative zu den privatwirtschaftlich betriebenen Informationssammlungen, die von Silicon Valley betrieben werden.

futurezone: Sie kritisieren seit Jahren verschiedene Aspekte der zunehmenden Vernetzung. Was besorgt Sie momentan am meisten?
Evgeny Morozov: Ich sehe die derzeitige Technologie-Entwicklung als eine Folge politischer und ökonomischer Prozesse. Die Vernetzung wird getrieben von Unternehmern, die Profit machen wollen, indem sie aus allem Wirtschaftsgüter machen. Alles bekommt einen Sensor, der Daten generiert, die dann verkauft werden. Diese Kommerzialisierung des Alltags bereitet mir Sorgen. Dadurch geraten Werte wie Solidarität unter Druck. In Amerika gibt es etwa neue Parkplatz-Apps, mit denen Nutzer öffentliche Parkplätze an andere verkaufen können, die ihnen eigentlich nicht gehören. Das passiert, weil wir uns eine Welt geschaffen haben, in der alles gekauft, verkauft, getauscht, bewertet und mit einem Preisschild versehen werden kann.

Durch die Betonung der kommerziellen Überwachung, verlieren Sie nicht die staatliche aus den Augen? Die Möglichkeit zur Manipulation von Menschen ist ja in beiden Fällen gegeben.
Ich halte die Prämisse, dass Manipulation das Problem ist, für falsch. Das eigentliche Dilemma ist, dass wir Informationstechnologie zum Hauptkanal für die Verteilung von Dienstleitungen gemacht haben, vom Transport bis zur Bildung. Wir befinden uns in einer Ära des zunehmenden Abbaus des Wohlfahrtsstaats. Im Silicon Valley und anderswo entstehen neue kommerzielle Mittelsmänner, die mit dem Segen des Staates dessen Funktionen übernehmen, weil den Regierungen das Geld fehlt. Diese Intervention von privatwirtschaftlicher Seite wird uns dann als innovative Lösung verkauft. Autoritäten wie Lehrer und Ärzte, die uns ihre Meinungen aufgezwungen haben, können angeblich mit Apps und Gadgets hinweggefegt werden und die Massen können endlich selbst die Wahrheit erkennen. Ich mag diese Darstellung nicht. Der Staat stiehlt sich so aus der Verantwortung.

Die Kritik der meisten Datenschützer am aktuellen System greift also zu kurz?
Mein Problem mit Snowden und anderen Datenschützern ist, dass sie viele Aspekte außer Acht lassen. Das Hinterfragen des Datenhungers von Staaten ist wichtig, bringt alleine aber nichts. Google, Facebook und Co wollen der Kitt werden, der unser tägliches Leben zusammenhält, sie wollen alles kontrollieren. Mit Thermostaten oder Autos, die mit Sensoren vollgestopft sind, wollen sie Küchen und Transportsysteme überwachen. Solche Veränderungen müssen im Kontext ökonomischer und demokratiepolitischer Überlegungen hinterfragt werden, nicht durch einen limitierten Aktivismus, der verlangt, dass der Staat schärfere Datenschutzbestimmungen erlässt und mehr Kontrolle für staatliche Überwachung fordert.

Hat die europäische Politik dabei versagt, auf die Ankunft solcher Dienstleister zu reagieren? Firmen wie Uber agieren teilweise im rechtsfreien Raum, haben ein modernes Image und beuten ihre Angestellten aus.
Wir haben es hier mit verschiedenen Ebenen des Versagens zu tun. Zuallererst würde ich die mangelnde Vorstellungskraft in Europa nennen, die mit der Unfähigkeit zu tun hat, über die rein legale Sphäre hinauszudenken. Die Antwort auf eine Herausforderung wie Uber können keinesfalls neue Gesetze sein. Das führt nicht zur Schaffung eines besseren Personenbeförderungssystems, was eigentlich das Ziel sein sollte. Vor Facebook und Co war aber auch nicht alles gut. Niemand kann ernsthaft zurück in die Zeit wollen, als Energiefirmen und Großbanken die öffentliche Meinung und die Gesetzgebung kontrolliert haben. Diese Moral war auch kaputt.

Machen es Firmen wie Facebook, Netflix und Google europäischen Politikern einfacher, die Kontrolle zu wahren, weil sie so viel bequeme Unterhaltung liefern?
Ja, aber es ist nicht so, dass vor der Ankunft von Netflix jeder hier ein Intellektueller war, der die ganze Nacht lang Gramsci gelesen hat. Italien hatte vor Netflix 20 Jahre Berlusconi, ohne dass dabei radikalisierte politische Dissidenten herangewachsen wären. Die Nutzung dieser Dienste hat aber sicher gewisse Sekundäreffekte, die der gegenwärtigen Agenda der Deregulierung und Privatisierung entgegenkommen.

Solche Dienste gewöhnen uns also an bestimmte Strukturen?
Google und sein Geschäftsmodell haben es alltäglich gemacht, dass a) Services werbefinanziert angeboten werden, b) die Überwachung der notwendige Preis ist, den wir dafür zahlen und c) diese Überwachung für Unternehmen mit keinerlei Konsequenzen verbunden ist. Das repräsentiert für mich einen enormen Umbruch. Heute würde sich niemand etwas dabei denken, wenn Google mit seinen selbstfahrenden Autos Gratis-Fahrten anbieten würde, wenn die Passagiere sich dafür Werbung ansehen. Das ist eine interessante Art, andere Möglichkeiten gesellschaftlicher Organisation zu verdrängen.

Sie kritisieren, dass wir alles mit unseren Daten bezahlen?
Das Problem ist nicht, dass wir mit unseren Daten, unserer Subjektivität oder unserer Zukunft für die Bereitstellung von Dienstleistungen zahlen, sondern dass wir mit unseren Steuern eigentlich schon dafür bezahlt haben, vom Staat aber nichts dafür bekommen. Es gibt die Steuern, die uns vom Gehalt abgezogen werden und dann gibt es noch eine unsichtbare Steuer, die wir bezahlen, indem all unsere Daten gesammelt und dann gegen uns verwendet werden, damit wir irgendwelches Zeug kaufen.

Sie haben als Alternative eine Art öffentlich rechtliche Datensammlung vorgeschlagen. Wie stellen Sie sich das vor?
Mein Vorschlag zeigt, wie Europa seine Abhängigkeit von Google mindern könnte, vorausgesetzt der politische Wille ist vorhanden. Ein Beispiel: Ich verwende sehr oft Google Scholar, dem wichtige Features fehlen. Ich würde gerne Zeit opfern, um eine Erweiterung zu schreiben, die das Programm verbessert. Das kann ich aber nicht, außer ich gründe ein Start-up, das dann von Google aufgekauft wird, damit das ganze Geld in Mountain View landet. Google setzt auf Zentralplanung im Sowjet-Stil, was Innovationen verhindert. Das geht auf Dauer nicht gut. Stattdessen sollten wir gleiche Voraussetzungen für alle schaffen. Das funktioniert nur, wenn niemand Daten exklusiv sammeln oder besitzen kann. Das kann aber nur ein starker Staat sicherstellen.

Und wie sieht es mit persönlichen Informationen aus?
Gesetze zum Schutz der Privatsphäre wurden ursprünglich nicht eingeführt, um Menschen von der Öffentlichkeit zu separieren. Sie sollten den Menschen den Raum geben, auch Lebensstile zu pflegen, die nicht mit der gesellschaftlichen Norm vereinbar waren. Heute wollen die Leute Privatsphäre, um Spotify zu hören, Netflix zu sehen oder sich mit ausgefallenen Sexpraktiken zu beschäftigen und sich vom öffentlichen Leben abzunabeln. Davon bin ich kein großer Fan. Die Art von Privatsphäre, die es uns erlaubt subversive Aktionen zu setzen, die müssen wir schützen.

Der Staat soll sich also nicht einfach Daten holen?
Jeder Staat oder Staatenbund, der Daten als öffentliches Gut behandeln will, wird ein Anreizsystem einführen müssen, das die Menschen dazu bringt, ihre Daten auch zu teilen und so zum globalen Wissenspool beuzutragen. Das könnte etwa mit Steuererleichterungen verbunden sein. Ich rede hier nicht von einer Kollektivisierung nach Sowjet-Vorbild. Niemand wird kommen, und deine Festplatte konfiszieren.

Zumindest in einigen Fällen gibt es gangbare Alternativen zu Google und Co, niemand zwingt die Menschen, bestimmte Applikationen zu verwenden. Sie selbst nutzen Google Scholar und Gmail. Könnten individuelle Entscheidungen etwas ändern?
Ich halte das Argument, dass wir nicht gezwungen sind, Google zu verwenden, für Blödsinn. Es basiert auf der religiösen, protestantischen Annahme, dass wir uns alle ethisch zu verhalten haben. Das führt zu einer sehr eingeschränkten Vorstellung davon, was Macht ist. Wenn ich meine Zeit effizient nutzen, meine Arbeit erledigen und nicht als Idiot oder technikfeindlicher Freak gelten will, gibt es keine Alternative zu Google. Der Zeitdruck wird vom ökonomischen und sozialen System ausgeübt. Menschen, die mehrere Jobs brauchen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, werden nicht plötzlich Geld für minderwertige Technik ausgeben wollen, weil das aus ethischer Sicht Sinn macht.

Sie sehen derzeit also keine Möglichkeit, dieser Entwicklung zu entkommen?
Das heißt nicht, dass wir uns alle Google ergeben müssen. Aber von mir zu verlangen, dass ich von Google Scholar auf eine andere Lösung wechseln soll, kommt einer Beeinträchtigung meiner beruflichen Produktivität gleich. Ich will nicht wie Richard Stallman in einem Büro enden und nur noch Software verwenden, die höchsten ethischen Ansprüchen genügt. Das ist der falsche Kompromiss. Ich glaube nicht an Konsumentenaktivismus. Das ist für mich eine bourgeoise Antwort für ein zutiefst ökonomisches, kapitalistisches Problem. Unsere Probleme müssen kollektiv politisch angegangen werden, nicht dadurch, dass ich ein besserer Konsument werde.

Glauben Sie nicht, dass Firmen wie Google im derzeitigen System irgendwann abgelöst werden, so wie es anderen Internetfirmen passiert ist?
Dass Google heute behauptet, dass jede Firma, die einen besseren Suchalgorithmus entwickelt, ihre Vorherrschaft beenden könnte, ist lächerlich. Google hat eine Datenbank mit Millionen von Dingen, die ich im Netz gesucht habe, mit denen sie ihre Ergebnisse personalisieren - was oft sehr nützlich ist. Auch die Daten meines Browser und Mobiltelefons kommen aus einer Infrastruktur, die Google gehört. Es ist unmöglich für irgendjemand anderen, Googles Position anzufechten.

Welche technlogischen Entwicklungen erwarten Sie für die Zukunft?
Ein positives Szenario, in dem wir Bürger mehr Verantwortung übernehmen, ist denkbar, wenn sich politisch einiges bessert und die Bürger sich wirklich dafür einsetzen. Meine Hauptsorge ist nicht, dass Technologie die Automatisierung, Individualisierung und Selbstsucht verstärkt, die in westlichen Gesellschaften schon so weit verbreitet ist, sondern dass sie das auf eine Weise tut, die nicht wahrnehmbar ist. Ich sehe in Europa Anzeichen für Verzweiflung. Meine Angst ist, dass Google und Facebook als Heilmittel gesehen werden. Silicon Valley spielt geschickt mit dieser Erlöserrolle, indem Themen der Gegenkultur der 70er aufgegriffen werden: Die Rebellion gegen eingesessene Autoritäten. Wir geben unsere Büchereien, Schulen und Medien auf und sehen das auch noch als Befreiung. Hier liegt die Gefahr: Dass die Menschen den Nutzen für den Markt mit dem Nutzen für den Einzelnen verwechseln und nicht mehr unterscheiden können.

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Markus Keßler

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