© Jakob Steinschaden

Reportage

Island weist den Weg in die Internet-Zukunft

Wenn man in Reykjavík die belebte Bankastræti mit ihren Shops und Restaurants hinunter Richtung Hafen schlendert und kurz, bevor sie die Lækjargata kreuzt, nach rechts blickt, sieht man zwei Statuen vor dem Stjórnarráðið, dem Sitz des Premierministers, stehen. Die Statue, die näher zum Betrachter aufragt, stellt Hannes Hafstein, der 1904 der erste Minister für Island wurde. Die weiter entfernte ist der dänische König Christian IX., der in seiner Hand die erste Verfassung Islands hält. Weil die beiden Statuen parallel zur Bankastræti aufgestellt wurden, betrachtet man sie von der Seite, und wenn man im richtigen Winkel zu ihnen steht, dann wird man sich einer höchst seltsamen Sache bewusst: Es sieht so aus, als würde König Christian Minister Hafstein die zusammengerollte Verfassung in den Hintern schieben.

Ob die Erbauer der Statuen diesen bitteren Witz eingeplant haben oder er nur irgendwann per Zufall entdeckt wurde, ist nicht bekannt - von eingeweihten Isländern wird man jedenfalls gern auf dieses kleine schmutzige Geheimnis der Hauptstadt hingewiesen, und es zeigt sehr gut, was viele der Isländer von ihrer Verfassung halten.

Island ist, was seine jüngere Geschichte, in der die Verfassung eine zentrale Rolle spielt, angeht, hochinteressant. Als erstes Opfer der Finanzkrise, die nach dem Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers 2008 über den Atlantik rollte, stand die kleine Insel mit etwa 320.000 Einwohnern plötzlich vor einem Schuldenberg, der grob das Siebenfache des Bruttoinlandprodukts betrug - ein gewaltiger Einschnitt, der spannende Entwicklungen zur Folge hatte. Wenn heute hunderttausende Menschen in Spanien, Griechenland oder Italien gegen die Sparpläne der Regierungen auf die Straße gehen, dann sehen einige von ihnen das kleine Island als Vorbild. Denn die Insel am Rande Europas scheint bereits das durchgemacht zu haben, was auf andere europäische Länder noch zukommen könnte.

Kochtopf-Revolution und Facebook-Verfassung
"Die Leute waren verwirrt und verängstigt, und der Premierminister hat im TV die Hilfe Gottes angerufen”, schildert der Isländer Hörður Torfason die Krise. Der bekannte Musiker und erste bekennende Schwule Islands gilt heute als Initiator der Kochtopf-Revolution, die im Jänner 2009 ihren lärmenden Anfang nahm und schließlich die Regierung sowie die verantwortlichen Vorstände von Finanzdienstleistungsaufsicht und Nationalbank aus dem Amt jagte. "Das Internet war vital für die Protestbewegung", sagt Torfason. "Vor allem Facebook ist sehr wertvoll. In Island gehören die Zeitungen den Politikern. Facebook ist zu unserem Forum für Debatten geworden. In den Zeitungen wird die Propaganda der Politiker wiedergegeben, die Kritiker aber finden sich auf Facebook."

Facebook sollte beim folgenden Großprojekt nach der Revolution eine zentrale Rolle spielen. Island wird bereits als “Facebook-Insel” (© Spiegel Online) bezeichnet - 70 Prozent der sehr technik-affinen Bevölkerung ist bei dem Online-Netzwerk registriert. So verwundert es wenig, dass die in Planung befindliche, neue Verfassung des Landes auch gerne “Facebook-Verfassung” genannt wird. Sie wurde von einem 25-köpfigen, von den Bürgern gewählten Verfassungsrat erarbeitet, der auch Guðmundur Gunnarsson (übrigens Vater der weltbekannten Musikerin Björk) angehörte.

Facebook-Updates und YouTube-Videos dokumentierten die Arbeit des Rates. "Jeder konnte live mitverfolgen, was wir arbeiten und denken. Das hat viele der Dinge, die wir niedergeschrieben haben, verändert. Als die Leute via Internet begonnen haben, Fragen zu verschiedenen Themen zu stellen, hat das wiederum unsere Arbeit und unseren Fokus verändert", so Gunnarson. "Es hat unsere Wahrnehmung verbreitert. Natürlich wird im Internet viel Blödsinn geschrieben, aber wir haben dadurch auch neue Ideen bekommen und andere Blickwinkel für uns eröffnet."

Resultat der viermonatigen Arbeit des Verfassungsrates ist ein 25-seitiges Dokument mit 114 Artikeln in neun Kapiteln, die etwa grundlegende Menschenrechte, Machtverteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative, Informationsfreiheit, Naturschutz und demokratische Partizipation zum Inhalt haben, und auch das veraltete Wahlsystem soll verändert werden. Noch ist das außergewöhnliche Projekt aber nicht vollendet. Nach einer Volksbefragung müssen noch das derzeitige Parlament sowie das neue Parlament, dass 2013 gewählt wird, der Crowd-Verfassung zustimmen - vehementer Widerstand kommt dabei von den konservativen Parteien des Landes.

Das Schweiz der Bytes
Eng verknüpft mit der Facebook-Verfassung ist IMMI, die “Icelandic Modern Media Initiative”. Dieses teilweise schon umgesetzte Gesetzesbündel soll Island zu einem Datenfreihafen, zum einem “Schweiz der Bytes” werden. Maßgeblich verantwortlich für IMMI ist die isländische Parlamentarierin Birgitta Jónsdóttir. Die Netzaktivistin ist eine zentrale Figur in Islands jüngster Geschichte - hat sie doch gemeinsam mit WikiLeaks von Reykjavík das weltbekannte Collateral-Murder-Video veröffentlicht, dass auf drastische Weise die Brutalität des Irakkrieges vor Augen führte und die Whistleblower-Seite endgültig zum Staatsfeind der USA machte.

Mit IMMI, das eine Zeitlang auch Julian Assanges Unterstützung fand, soll Island das modernste Medien- und Internetgesetz der Welt bekommen. IMMI soll etwa ein neues Gesetz der Informationsfreiheit bringen: Es sieht vor, dass alle Staatsdokumente  "by default" öffentlich zugänglich sind und nur in Ausnahmefällen unter Verschluss gestellt werden können. Das Gesetzespaket sieht außerdem starken Schutz für Whistleblower-Webseiten vor. Auch ausländische Seiten sollen sich unter diesen Schutzschirm begeben und sich vor Zugriff und Löschung durch Behörden schützen können. Ob IMMI komplett in Kraft treten kann, hängt stark davon ab, ob Islands neue Verfassung 2013 durchgesetzt werden kann.

"Modernes Bücherverbrennen"
Jónsdóttir glaubt an die Unverzichtbarkeit des Gesetzes. Denn weltweit drohe Internetnutzern etwas, was die Parlamentarierin als "modernes Bücherverbrennen" bezeichnet. "In vielen Ländern, die Anti-Terrorgesetze eingeführt haben, hat zuerst die Meinungsfreiheit darunter gelitten. Es sind kleine Anwaltskanzleien, die für Firmen und Politikern sie betreffenden Online-Content überwachen und dafür sorgen, das die Informationen sauber bleiben. Wenn sie etwas entdecken, dann können sie nach Androhung von rechtlichen Schritten den Inhalt einer Story im Nachhinein ändern. Kürzlich ist das bei einer Geschichte über Björk passiert, die sich kritisch über eine Firma geäußert hat", so Jónsdóttir. "Die meisten Leute haben gar nicht mitgekriegt, dass die Geschichte geändert wurde. Das kommt für mich der Zerstörung unserer eigenen Geschichte gleich, es ist, als würde man das gleiche Buch in allen Bibliotheken der Welt gleichzeitig verbrennen.”

Damit in Island auch im Parlament künftig Menschen sitzen, die  die Freiheit des Internet beschützen wollen, gründete Jónsdóttir im Sommer 2012 die isländische Piratenpartei. "Das Internet ist immer noch meine große Liebe, weil es die letzte freie Welt ist, und es sorgt mich, dass von den Copyright-Firmen überall diese Berliner Mauern aufgebaut werden."

Insel der grünen Datencenter
Dass Island in Sachen Internet eine für Europa und die USA zentrale Rolle spielen wird, liegt nicht nur an der Vorbildwirkung des Landes und dem IMMI-Vorhaben. Geografisch günstig zwischen Nordamerika und Europa gelegen, entwickelt wich Island zu einem strategisch interessanten Sitz für die Rechenzentren großer Internet-Firmen. "Unsere Energie ist zu 100 Prozent grün", sagt etwa Einar Hansen Tómasson von der staatlichen Investitionsagentur "Invest In Iceland". Thermal- und Wasserkraftwerke sorgen dafür, dass Islands Energiegewinnung CO2-neutral ist, und das ist der wohl größte Trumpf des kleinen Lands.

Denn weltweit stehen IT-Konzerne wie Apple, Google, Facebook oder Amazon unter Zugzwang: Berichte wie jener der Umweltschutz-Organisation Greenpeace im April 2012 zeigen immer wieder auf, dass die riesigen Datencenter nicht nur enorm viel Strom verbrauchen (Schätzungen zufolge bereits zwei Prozent des globalen Energiebedarfs, Tendenz steigend), sondern diesen vorwiegend aus "schmutzigen" Quellen wie Atom- oder Kohlekraftwerken beziehen.

IT-Riesen im Anflug
"Island ist der ideale Ort für jede Firma, um ihre Daten und Applikationen zu lagern. Unternehmen, die an einer Verminderung ihrer Betriebskosten ihrer Datencenter sind und verstehen, dass Energie der Schlüsselfaktor dafür ist, werden Island in Betracht ziehen", sagt etwa Lisa Rhodes, Managerin von Verne Global, einem Betreiber eines riesigen Rechenzentrums im Südwesten von Island. Die britische Firma hatte 9,6 Hektar jenes Areals gekauft, das vor einigen Jahren noch als NATO-Stützpunkt diente und wo heute zum großen Teil Studenten die ehemaligen Militär-Bauten bewohnen.  

"Es ist windig heute, das ist unsere Gratis-Kühlung", sagt Verne-Global-Manager Helgi Helgason, während er zwischen den beiden riesigen Daten-Hallen, die künftig Tausende an Petabytes Daten speichern werden, steht. Zwei Glasfaserkabel schließen mit einer Kapazität von je 28 Gigabit pro Sekunde Verne Global an London bzw. Amsterdam an. Die Tiefseekabel, die Island mit dem Rest der Welt verbinden, heißen "Farice", "Danice" und "Greenland Connect", und 2014 soll ein viertes Hochgeschwindigkeitskabel dazukommen. IT-Riesen wie Amazon, Apple oder Facebook haben Insidern zufolge bereits Interesse bekundet, ihre Cloud-Server in Island aufzubauen.

Mehr zum Thema

  • Birgitta Jónsdóttir gründet Piratenpartei in Island
  • Zwei Bücher, ein Thema: Aktivismus im Netz
  • Wikileaks-Server sollen aufs offene Meer
  • Wikileaks: Twitter muss Daten offenlegen
  • WikiLeaks hat nichts verändert“
  • Island erarbeitet online eine neue Verfassung

Dieser Artikel beinhaltet Auszüge aus dem neuen Sachbuch "Digitaler Frühling - Wer das Netz hat, hat die Macht?" von futurezone-Redakteur Jakob Steinschaden. Es behandelt neue Phänomene wie die Arabischen Revolutionen, Occupy, WikiLeaks, Anonymous und Piratenparteien und zeigt auf, wie diese und andere Netzbewegungen zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen. "Digitaler Frühling ist bei Ueberreuter  erschienen und kostet 16,95 Euro.

Hat dir der Artikel gefallen? Jetzt teilen!

Jakob Steinschaden

mehr lesen
Jakob Steinschaden

Kommentare