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Interview

CERN: "Da kann noch was Größeres als das Higgs kommen"

Der Large Hadron Collider (LHC) der am Forschungszentrum CERN nahe Genf steht, hat seinen Betrieb nach Umbauarbeiten wieder aufgenommen. Die Energien, mit denen die Protonen im Beschleunigerring aufeinanderprallen, sind jetzt etwa doppelt so hoch wie vorher. Das soll es den beteiligten Forschern ermöglichen, erste Blicke auf eine neue Physik zu werfen, die den bisherigen Rahmen sprengen kann. Kerstin Borras, die stellvertretende Leiterin des CMS-Experiments (Compact Muon Selenoid, ein Detektor, der mit Hilfe von Selenoidmagneten Myonspuren vermisst) am Teilchenbeschleuniger, erklärt im Interview, warum die Bestätigung des Higgs-Bosons (ein in den 1960er-Jahren postuliertes Teilchen, das anderen Elementarteilchen Masse gibt, Anm. d. Red.) für den LHC erst der Anfang war.

Kerstin Borras
Wie geht es mit dem Upgrade des CMS Experiments voran?
Wir hatten bereits erste Kollisionen mit 13 TeV (Teraelektronenvolt, ein Maß für die Bewegungsenergie, Anm. d. Red.). Der CMS Detektor ist fertig und in Betrieb, alles läuft sehr gut. Der Pixeldetektor hat jetzt mehr Auslesekanäle, wir haben unseren Myondetektor vervollständigt und das hadronische Kalorimeter wurde verbessert. Der Umbau hat zwei Jahre gedauert und erfolgte zeitgleich mit dem Beschleuniger-Umbau. Die Spuren- und der Pixeldetektoren können jetzt bei minus 20 Grad Celsius betrieben werden, auch wenn es in der Praxis nur minus 10 sein werden, um die Materialausdehnungen zu begrenzen. Kühlerer Betrieb bedeutet verlängerte Lebensdauer, weil die intensiven Teilchenflüsse im Detektor dann nicht mehr so viele Schäden im Silizium bewirken.

Welche Verbesserungen sind in Zukunft noch geplant?
Für die weitere, sich in kleinen Schritten erhöhende Luminosität (Die Luminosität ist ein Maß für die Zahl der Kollisionen pro Zeit- und Flächeneinheit und damit ein Maß für die Anzahl der Ereignisse, die aufgezeichnet werden können, Anm. d. Red.) werden wir erneut bessere Detektoren brauchen, beispielsweise mit strahlenhartem Silizium. Die derzeitige Hardware würde dem nämlich nicht standhalten. Schon zum Jahrwechsel 16/17 werden wir einen besseren Pixel-Detektor einbauen, der statt drei dann vier Pixel-Lagen hat, mit denen die Teilchenspuren genauer vermessen werden. Den kann man sich vorstellen wie eine Kamera mit sehr guter Auflösung, nur eben mit 40 Millionen Bildern in der Sekunde und in 3D. Die neuen Sensoren rücken dann auch näher an die Wechselwirkungszone heran. Danach, in 2019-2020, werden wir in einer kurzen Umbauphase weitere Verbesserungen einbauen, beispielsweise für das Kalorimeter, das die Energie der Teilchen misst und den Trigger, der die wichtigsten Ereignisse aus dem Datenstrom herausfiltert.

Wann kommt das High-Luminosity-Upgrade?
Nach jetzigen Planungen beginnt der ganz große Umbau für eine zwei- bis dreimal höhere Luminosität mit sehr zentralen Erneuerungen in 2024. Dann kommt noch einmal ein ganz neuer Pixel- und Spurendetektor mit konzeptionell neuen Sensoren und neuer Auslese. Das Kalorimeter wird in den Endkappen des Detektors komplett mit neuer Technologie ersetzt und der Trigger und die Auslese werden mit neuer Hardware beschleunigt, damit mehr Daten verarbeitet werden können.

Warum dauert es relativ lange, bis man physikalische Ergebnisse aus den Detektorereignissen herauslesen und veröffentlichen kann?
Am LHC kollidieren Protonen miteinander. Sie bestehen aus Gluonen und Quarks, zwischen diesen gibt es nicht nur eine Kollision, sondern mehrere Wechselwirkungen. So entsteht eine Art Grundrauschen, das herausgefiltert werden muss. Ein Problem ist auch, dass ein und derselbe Endzustand im Detektor durch verschiedene Ereignisse verursacht werden kann. Wenn wir beispielsweise das Higgs vermessen wollen, müssen wir wissen, wie oft andere bekannte Standardmodell-Prozesse ohne Higgs einen gleichen Endzustand produzieren und diesen Anteil abziehen. Zur Analyse setzen wir statistische Methoden ein. Auf Grund der Arbeiten des Proton-Antiproton Beschleuniger im Fermilab in den USA wussten wir schon bei der LHC-Planung, dass wir hier sehr genau arbeiten müssen. Die dafür nötigen Messungen war auch unsere erste Publikation mit der neuen Hardware, sie zeigen, was uns bei der neuartigen Energie von13 TeV erwartet. Das ist die Basis für die jetzt anstehenden Präzisions- und Entdeckungsmessungen.

Gab es schon Überraschungen?
Die Suche nach neuer Physik hat natürlich gleich begonnen. Die meisten Ergebnisse aus der 7 und 8 TeV-Phase konnten wir bei 13 TeV bereits wiederholen und bestätigen. Das Higgs fehlt noch, das ist aber nur eine Frage der Zeit. Nach den Bestätigungen der vorherigen Ergebnisse wird es jetzt spannend. Jede kleine Abweichung von den Vorhersagen, jedes exotische Ereignis wird gründlichst untersucht. Wir brauchen aber noch mehr Daten, um zu entscheiden, ob wir etwas Neues oder nur eine statistische Fluktuation gesehen haben. Auch das Higgs wird ein Pfadfinder für neuartige Studien und Datenanalysen sein, um Hinweise auf neue Physik zu entdecken. Wir können jetzt ja alles viel präziser und mit einer höheren Datenmenge messen.

Was erwarten Sie sich durch die höheren Energien?
Mein persönlicher Hit wäre ein Hinweis auf Dunkle Materie Das leichteste Teilchen in SUSY (Supersymmetrie, eine Theorie, die für jedes Elementarteilchen einen schwereren Superpartner postuliert, Anm. d. Red.) könnte ein Kandidat dafür sein. Mit den bisher aufgezeichneten Daten arbeiten wir schon mit Hochdruck daran. Bei uns schauen alle sehr aufgeregt auf die neuen Daten und jede neue Analyse wird mit Spannung erwartet und sehr eingehend auf Richtigkeit begutachtet. Als stellvertretende Leiterin des CMS-Experiments habe ich aber leider nicht mehr viel Zeit für die Analyse.

SUSY ist durch die bisherigen Ergebnisse bereits unter Druck.
Ja, das hört man oft. Aber bislang wurden nicht alle SUSY-Varianten ausgeschlossen und von den bevorzugten Varianten konnten nur die am einfachsten zugänglichen Bereiche getestet werden. Es ist noch genügend Raum für SUSY-Entdeckungen übrig und jetzt mit der höheren Energie wieder erweitert worden.

Welche neuen Erkenntnisse wären noch möglich?
String Theorien und Extradimensionen sind zwei Beispiele für Alternativen, die wir unter anderem auch erforschen. Wir haben ja verschiedene Arbeitsgruppen: 1 vermisst das Higgs und sucht potenzielle weitere Higgsteilchen, die von anderen Theorien vorhergesagt werden, 2 widmet sich SUSY, 3 und 4 konzentrieren sich auf andere Theorien für Neue Physik mit exotischen neuen Teilchen, 5 macht Präzisionsmessungen des Top-Quarks, um zu sehen, wie sie mit Vorhersage übereinstimmen, 6 arbeitet am Standardmodell mit W- und Z-Bosonen, 7 vermisst B-Mesonen sehr genau , 8 beschäftigt sich mit den vorher erwähnten Messungen zum Untergrund und anderen Themen der starken Wechselwirkung.

Wie können die LHC-Experimente eine Bestätigung für neue Physik liefern?
Die verschiedenen Theorien machen mit bestimmten Annahmen Vorhersagen für neue Teilchen mit Signaturen, die selten auftreten. Unsere Exotika-Gruppe ist mindestens so groß wie die SUSY-Gruppe und analysiert alle Daten nach Hinweisen auf diese Signaturen. Ein Ereignis mit zwei Jets, also Bündel von Teilchen, die höchste Energien haben, kann ein Hinweis sein. Aber natürlich kann man aus diesem einem Ereignis noch nichts herauslesen, es könnte auch eine statistische Fluktuation oder eine Fehl-Messung sein. Das kann man erst mit mehr Daten unterscheiden.

Wie stellen Sie sicher, dass durch die automatisierte Vorsortierung der Rohdaten nicht wichtige Informationen weggefiltert werden?
Im CMS Experiment gibt es einen Zwei-Stufen-Datenfilter. Level 1 funktioniert auf Elektronikebene. Verschiedene Detektorkomponenten liefern ihre Signale an eine spezielle Elektronik, in der entsprechende einfache Algorithmen direkt verdrahtet sind. Die schauen beispielsweise nach der Gesamt-Energie im Ereignis. Auf der High-Level-Ebene rekonstruieren 15.000 CPUs die Kollisionsereignisse. Mit komplexen Algorithmen, die verschiedene Messgrößen miteinander verknüpfen, werden dann die interessanten Ereignisse herausgefiltert und gespeichert. Besondere Ereignisse werden eine besondere Signatur haben, etwa außergewöhnlich viele Teilchen, oder viele Jets, oder eine eigenartige Orientierung. Unsere Trigger schauen beispielsweise auf alle Ereignisse, in der die Jet-Energie eine bestimmte Schwelle übersteigt.

Da kann nichts schiefgehen?
Es gibt natürlich Bedenken, dass versehentlich etwas Wichtiges verloren geht. Deshalb gibt es einen kleineren zweiten Datenstrom, der parallel läuft, von den Ereignissen nur wichtige Kenngrößen anschaut und in diesem kleinen Format speichert. Findet man hier ein interessantes Ereignis, kann man den originalen Datenstrom unter diesem Aspekt gezielt durchkämmen. Aber auch hier passiert eine Reduktion. Wir haben auch einen sehr kleinen Datenstrom, in dem wenige Ereignisse ungefiltert gespeichert werden. Hierbei handelt es sich aber meistens um Ereignisse, deren Wechselwirkung oft passiert und die wir schon sehr präzise vermessen haben. Letztendlich gibt keine hundertprozentige Sicherheit. Am CERN arbeiten wir global. Da wird die Intelligenz von vielen Forschern mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen und Angehensweisen gebündelt. Unsere Kollaboration hat fast 5000 Mitglieder aus 43 Ländern. Wir realisieren damit größtmögliche Ideenvielfalt.

Hat das Higgs-Boson andere Entdeckungen am LHC überstrahlt?
Das Higgs ist nicht alles, aber es war ein fehlendes Puzzleteil des Standardmodells. Es gibt anderen Teilchen ihre Masse und kann bei der Beantwortung existenzieller Fragen behilflich sein. Das Higgs-Teilchen wurde schon 1964 von Theoretikern vorhergesagt. Der LHC wurde speziell so ausgelegt, dass man einen möglichst breiten Massenbereich abdeckt, insbesondere den Bereich, der von den vergeblichen jahrzehntelangen Suchen an anderen Beschleunigern bevorzugt wurde.

Hat der LHC damit ausgedient?
Nein. Wir haben das Higgs bei einer relativ geringen Masse entdeckt. Da bleibt noch sehr viel Raum für viel schwerer neue Teilchen. Es gibt nämlich noch viele offene Fragen. Die Gravitation ist nicht in das Standardmodell eingebettet. Zudem beschreibt das Standardmodell nur fünf Prozent der Masse und Energie im Universum. Dunkle Materie, über die wir wenig wissen, macht 25 Prozent aus, die dunkle Energie, über die noch weniger bekannt ist, den Rest. Es ist also mehr als gerechtfertigt, den LHC laufenzulassen und auf mehr Luminosität zu trimmen. Da kann durchaus noch etwas Größeres als das Higgs kommen. In der Teilchenphysik braucht man oft, wie mit dem Higgs, einen langen Atem.

Kommen wir mit Beschleunigern überhaupt noch weiter?
Das Higgs beweist, dass die zugrundeliegenden Konzepte richtig und wichtig sind. Ich bewundere die Theoretiker für ihre Ideen zu neuen Theorien, das ist immer wieder faszinierend. Diesen Ansätzen müssen wir nachgehen, indem wir Messungen machen. Dazu brauchen wir viele Daten und Präzisionsmessungen.

Steckt die Physik derzeit in einer Sackgasse?
Nein, ich sehe keine Sackgasse. Die Fragen, wie unser Universum entstand und sich entwickelt hat, was die elementare Bausteine und Kräfte sind, wird uns immer weitertreiben.

Was kommt nach dem LHC?
Parallel zum LHC gibt es bereits neue Konzepte, wie beispielsweise ein linearer Elektronen/Positronen-Beschleuniger. Hier könnte sehr saubere Physik gemacht werden. Weil Elektronen und Positronen punktförmige Teilchen sind, haben die Kollisionen auch bei hoher Energie kein zusätzliches Grundrauschen wie bei Protonen-Kollisionen. Am CERN ist außerdem der Future Circular Collider, ein Beschleunigerring von 100 km Umfang mit noch höherer Kollisionsenergie eine Zukunftsvision. Aber ich lebe in der LHC-Ära und will hier noch möglichst viel erarbeiten. 2010 haben alle gedacht “Jetzt finden wir das Higgs”, der Pfad war vorgezeichnet. Für die zukünftige Datennahme mit Welt-höchster Energie gibt es viele Kandidaten für neue Entdeckungen. Wir sind gespannt, was die Natur noch alles auf Lager hat.

Zur Person:
Kerstin Borras arbeitet für das Deutsche Elektronen Synchroton (DESY) und ist derzeit am LHC stellvertretende Leiterin des CMS-Experiments. Zudem unterrichtet sie an der Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule in Aachen.

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Markus Keßler

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