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Interview

"Wir können einfache Gedanken lesen"

John-Dylan Haynes sucht in der Gehirnaktivität von Menschen nach Mustern und kann auf diese Art feststellen, woran sie denken. Vergangene Woche war Haynes bei der ARS Electronica in Linz zu Gast, die sich heuer unter dem Titel "Total Recall" der Evolution des Gedächtnisses widmete. Die futurezone befragte den britisch-deutschen Neurowissenschaftler nach möglichen Anwendungen des Gedankenlesens.

futurezone: Ihre Forschung hat Ihnen den Beinamen "der Gedankenleser" eingebracht. Könnten Sie feststellen, welche Frage ich Ihnen als nächstes stellen werde?
John-Dylan Haynes: Wenn ich Sie in einen Kernspintomographen legen und Ihre Hirnaktivität messen würde, dann könnte ich das tatsächlich zu einem gewissen Grad tun. Wir können einfache Gedanken lesen. Voraussetzung ist allerdings, dass sie mir eine von vier möglichen Fragen stellen und ich vorher gemessen habe, wie die Aktivitäten in Ihrem Gehirn aussehen, wenn Sie die eine oder die andere Frage stellen.

Welche Anwendungen werden durch Ihre Forschungen ermöglicht?
Es gibt eine Reihe von möglichen Anwendungen, etwa im klinischen Bereich. Mithilfe von Hirn-Scannern und Mustererkennungssoftware könnte man feststellen, ob ein Wachkomapatient bewusst etwas von der Außenwelt mitbekommt. Eine andere mögliche Anwendung wäre das Steuern von Prothesen mittels Gehirn-Computerschnittstellen mit reiner Gedankenkraft.

Wann werden solche Lösungen marktreif sein?
Diese Möglichkeiten sind heute als Technik noch nicht da, sie könnten aber in den nächsten zehn bis 20 Jahren möglich sein.

Gedankensteuerung ist auch ein Thema für die Computer- und Spieleindustrie.
Die Gehirn-Computer-Schnittstellen, die für die Steuerung von Prothesen entwickelt wurden, lassen sich auch auf andere Anwendungen übertragen. Die Spieleindustrie hat das auch für sich entdeckt. Es gibt etwa ganz einfache Schnittstellen, die auf Elektroenzephalografie (EEG) basieren. Es ist unter Forschern allerdings umstritten, ob sie tatsächlich die elektrische Aktivität des Gehirns messen oder einfach nur elektrische Begleiterscheinungen von Kopfmuskelbewegungen. Prinzipiell lässt sich das aber in Spiele einbauen.

Kernspintomographie kommt auch bei Lügendetektoren zum Einsatz. Wie zuverlässig sind solche Lösungen?
Das ist noch im Entwicklungsstadium. Die Grundlagenforschung hat gezeigt, dass so etwas im Prinzip möglich ist. Bis zu konkreten Anwendungen ist es aber noch ein weiter Weg. Es gibt heutzutage keine Kernspin-basierte Lügendetektion, die zuverlässig funktioniert. Diesen Beleg hat noch keine Firma erbracht, die diese Dienstleistung anbietet. Lügendetektoren werfen aber, genauso wie Gehirnmarketing, ethische Fragen auf.

Müssen wir uns überlegen, wie wir unsere Gedanken schützen können?
Wir halten unsere Gedanken für privat und müssen vorsichtig sein, wenn wir in unsere mentale Privatsphäre eindringen. Wir müssen uns bewusst sein, dass eine fundamentale Grenze überschritten wird.

Welche Anwendungen halten Sie für ethisch unbedenklich?
Es sollte dann kein Problem sein, wenn die betroffene Person selber möchte, dass man das tut. Etwa im Falle von Gehirn-Computerschnittstellen für bewegungsbehinderte Menschen. Lügendetektoren sind ethisch schwieriger. Da könnte man etwas finden, was die Person gar nicht von sich preisgeben möchte. Andererseits erlaubt man damit auch einer Person, die unschuldig ist, ihre Unschuld besser zu belegen. Auch Gehirnmarketing ist problematisch, weil es rein kommerziellen Zwecken dient. Ich würde mich dagegen entscheiden, für kommerzielle Zwecke die Barriere der mentalen Privatsphäre zu durchbrechen.

Können Gedanken und Erinnerungen auch manipuliert und programmiert werden, wie es etwa in Science-Fiction-Filmen häufig zu sehen ist?
Das Stimulieren von Gedanken oder das Einpflanzen von Erinnerung ist noch Zukunftsmusik. Das liegt daran, dass sowohl unsere Gedanken, als auch unsere Erinnerungen in komplexen Aktivitätsmustern im Gehirn gespeichert sind. Es sind viele Stellen am Gehirn gleichzeitig daran beteiligt, eine bestimmte Erinnerung oder ein bestimmtes Erlebnis zu speichern. Wir haben heutzutage noch gar keine Technik, so eine komplexe Stimulation vieler Stellen im Gehirn gleichzeitig leisten könnte.

Mit dem Internet lagern wir unsere Erinnerungen zunehmend aus. Verändert sich das Gehirn, wenn wir etwa Fakten nicht mehr präsent haben müssen, weil wir sie jederzeit abrufen können?
Es muss sich etwas verändern, weil sich unser Gehirn immer an unsere Lebenswirklichkeit anpasst. Das Gehirn ist sehr plastisch. Vor hundert Jahren hat man Schillers Glocke in der Schule auswendig gelernt. Das macht heute keiner mehr. Wir lernen heute nicht mehr irgendwelche unsinnigen kleinen Details, die wir später nicht mehr brauchen, sondern müssen mehr und mehr Wissen über viele komplexe Techniken haben, die in unserem Umfeld angewandt werden. Damit ändern wir sicherliche auch unsere neuronalen Strategien.

Technopessimisten wie etwa der US-Autor Nicholas Carr befürchten, dass durch vernetzte Geräte und die Flut an Informationen, die auf uns einströmt, unsere Fähigkeit längere Texte aufzunehmen beeinträchtigt und längere Gedankengänge erschwert werden. Lassen sich solche Befürchtungen durch die Forschung bestätigen?
Mir ist nicht bekannt, dass es dazu Forschungen aus den Neurowissenschaften gibt. Man muss bei all dem Pessismismus auch vorsichtig sein. Menschen sind ungeheuer anpassungsfähig. Wenn es irgendwann erforderlich sein sollte, dass man einen längeren Text versteht, werden Menschen diese Fähigkeit auch an sich entdecken und wieder reaktivieren können. Ich teile diesen Pessimismus nicht.

Der 1971 in Großbritannien geborene deutsche Neurowissenschaftler und Psychologe John-Dylan Haynes sagte 2008 in einem aufsehenerregenden Experiment Entscheidungen von Probanden voraus, bevor diese sich selbst darüber bewusst waren. Haynes ist Professor am Bernstein Center der Charité in Berlin, wo er über die neuronalen Grundlagen von Bewusstsein, Willensfreiheit und Handeln forscht.

Mittels Kernspintomografie, bei der Probanden in einer Art Röhre liegen, wird der Sauerstoffgehalt des Blutes im Gehirn gemessen. So können Aktivitätsmuster im Gehirn identifiziert werden. In solchen Mustern werden Gedanken oder Erlebnisse sichtbar, wie John-Dylan Haynes bei seinem Vortrag am Freitag bei der diesjährigen ARS Electronica erläuterte.

Das Bild einer Katze ruft etwa immer dasselbe Aktivitätsmuster im Gehirn hervor. Allerdings verteilen sich die Muster auf verschiedene Regionen des Gehirns. Von dort werden sie in der Erinnerung zusammengesetzt. „Wenn man an etwas denkt, werden bestimmte Regionen im Gehirn besonders aktiv. Gedanken werden in einem verteilten Aktivitäsmuster codiert“, erklärte Haynes.

Mustererkennung

Die Aktivitätsmuster des Gehirns werden mithilfe von Mustererkennungssoftware ausgewertet. Der Technik sind allerdings noch Grenzen gesetzt. Die Auflösung ist begrenzt, um wirklich detaillierte Ergebnisse zu bekommen, bräuchte man Möglichkeiten, die Aktivität einzelner Nervenzellen zu messen. Auch über die Veränderungen von Aktivitätsmustern im Laufe der Zeit weiß die Wissenschaft heute noch zu wenig.

Darüber hinaus sind die Muster von Person zu Person verschieden. Unklar ist auch, wie die Vielzahl solcher Aktivitätsmuster überhaupt erfasst werden kann. „Ein perfektes Gedankenlesegerät können wir noch nicht bauen“, sagte der britisch-deutsche Wissenschaftler.

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Patrick Dax

pdax

Kommt aus dem Team der “alten” ORF-Futurezone. Beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Innovationen, Start-ups, Urheberrecht, Netzpolitik und Medien. Kinder und Tiere behandelt er gut.

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