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Märkte

Indien ist nicht das neue China

1,2 Milliarden Einwohner auf fast 3,3 Millionen Quadratkilometern – Indien wird seit Jahren schon als der große Hoffnungsmarkt der Zukunft bezeichnet und soll zu einem boomenden Markt wie China werden: Dank liberaler Wirtschaftspolitik und einer Bevölkerung, die in einem hohen Maß der Technik und der Informationstechnologie gegenüber aufgeschlossen ist. Bangalore beispielsweise hat sich schon sehr früh als Luft- und Raumfahrtszentrum sowie als die IT-Hochburg Indiens entwickelt.  Wer künftig profitieren will, müsse so rasch als möglich in Indien sesshaft und produzieren lassen – so Expertenprognosen vor vielen Jahren.

Die Produktion
Die Frau sitzt über einer beleuchteten, großen runden Lupe und kontrolliert die Leiterplatte auf optisch erkennbare Fehler. Für welches Gerät sie bestimmt ist, lässt sich nur erahnen, die Wahrscheinlichkeit, dass sie demnächst in ein Fahrzeug eingebaut wird, ist ziemlich groß, liegt bei 60:40 – denn 60 Prozent der Leiterplatten, die im indischen Nanjangud bei Mysore hergestellt werden, werden für die Automobil-Branche produziert.

Die Premiere
Der österreichische Leiterplatten-Hersteller AT&S war eines der ersten internationalen Unternehmen, die sich in Indien niedergelassen haben. Bereits 1999 kaufte AT&S ein bestehendes Leiterplattenwerk in Nanjangud, etwa eine halbe Flugstunde von Bangalore entfernt, was mit dem Auto übrigens drei bis sechs Stunden dauert. 2002 und 2005 wurde das Werk erweitert, 2009 wurde der Bau eines zweiten Werkes beschlossen - angesichts des boomenden Marktes im Industrie- und Automobilbereich. So konnten die Kapazitäten um 50 Prozent erhöht werden. Mittlerweile werden pro Jahr 380.000 Quadratmeter Leiterplatten produziert – eine Fläche so groß wie 52 Fußballfelder. Die Leiterplatten kommen vor allem im Bereich der Industrie- und Medizintechnik sowie in der Automobilindustrie zum Einsatz.

Der Musterschüler
AT&S gilt weltweit als der Musterschüler bei der Leiterplattenproduktion und wird von Unternehmen wie Apple gerne als Vorbild, wie ein Konzern mit den Ressourcen Umwelt und Arbeitskräfte umgehen müssen, präsentiert. Leiterplatten-Werke werden gemeinhin ob des großen Wasserverbrauchs gerne als die Umweltsünder dargestellt. AT&S hat in den vergangenen Jahren große Investitionen getätigt, um die Produktion nachhaltig umweltfreundlich laufen zu lassen. Hochmoderne Filter verhindern, dass Emissionen in die Luft gelangen, das Wasser wird nach der Produktion so aufbereitet, dass es – übrigens sauberer als vorher – wieder dem normalen Wasserkreislauf zugeführt werden kann. Der Wasserverbrauch liegt übrigens um 30 Prozent unterhalb der vorgegebenen Grenzen.

Problem Stromausfälle
Doch mit den Ressourcen hat man in Indien ziemliche Probleme. 90 Mal pro Jahr fällt der Strom aus, was dem Unternehmen pro Ausfall bis zu 30.000 Dollar kosten kann. Zwar gibt es ein Notstromaggregat, allerdings dauert es etwa 15 Minuten, bis es die volle Last der Produktion übernehmen kann. Auch die Rohstoff-Beschaffung stellt in Indien eine Hürde dar. "95 Prozent der Materialien, die man für die Herstellung der Leiterplatten benötigt, müssen über den Seeweg importiert werden", sagt  Finanzchef von AT&S-Indien, Mohan Krishna. "Und das erfordert einiges an Taktik und Verhandlungsgeschick bei den hiesigen Behörden."

Der schwierige Markt
“Mit der jetzigen Kenntnis des Marktes und des Umfeldes würde ich Indien heute nicht mehr machen”, sagt AT&S-Aufsichtsrat Willi Dörflinger. “Auf der anderen Seite war es dennoch die richtige Entscheidung, dass wir in Indien die Produktion aufgenommen haben, denn das war der erste Schritt zur Internationalisierung der AT&S vor dem Börsengang.” 1994 beteiligte sich Dörflinger zusammen mit Hannes Androsch und Helmut Zoidl am Management-Buyout der AT&S und war bis 2005 zuerst geschäftsführender Gesellschafter, dann Vorstand und zuletzt Vorstandsvorsitzender. “Unser Problem in Indien war, dass wir den Standort, bevor wir ihn technologisch auf den neuesten Stand bringen konnten, expandiert haben. Das haben wir unterschätzt. Wir sind dabei, das zu korrigieren und ich bin überzeugt, dass Indien einen positiven Beitrag zur ATS liefern wird”, so Dörflinger. Aber in Indien sei es viel schwieriger und mühsamer als in China. “Bei unserem Engagement in Indien hat man ja nicht gewusst, wie sich die Märkte entwickeln”, ergänzt AT&S-CEO Andreas Gerstenmayer. “Wenn die Sache gekippt und Indien statt China geboomt hätte, wären wir vor Ort gewesen.” Aber Europa könne eigentlich froh sein, dass Indien nicht wie prognostiziert wie China boomt. Dörflinger: “Wo wären wir dann in Europa? Dann gäbe es in Europa wohl überhaupt keine Industrie mehr.”

Mitarbeiterkultur
Als Arbeitgeber wird das österreichische Unternehmen geschätzt. Freilich, weil es knapp 1300 Arbeitsplätze geschaffen hat, aber auch wegen der Mitarbeiterkultur. Es gibt Shuttle-Busse, ein Gesundheitszentrum sowie Bildungsprojekte, so werden etwa lokale Schulen unterstützt. Doch ein einfaches Pflaster ist Indien nicht. "Gewerkschaften sind hier sehr sehr stark", schildert Krishna. Im Drei-Schicht-Betrieb wird in  Nanjangud rund um die Uhr gearbeitet.

AT&S ist der größte Leiterplattenhersteller in Europa und zählt aus technologischer Sicht zu den Top-3-Leiterplattenunternehmen der Welt. ATS hat 7500 Mitarbeiter weltweit, drei Produktionsstandorte in Österreich sowie Werke in Indien, China und Korea. AT&S unterhält ein Vertriebs-, Service- und Designzentrum in Deutschland, sowie ein Vertriebsnetzwerk, das sich über vier Kontinente erstreckt. Erst Anfang des Jahres wurde die Präsenz auf dem US-Markt verstärkt, um näher an Kunden wie der Luftfahrt- und Automobilindustrie zu sein.

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