Der unsichtbare Mensch
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Am Anfang war die Utopie: Edler sollte der Mensch werden durch die Anonymität im Netz, Teil einer egalitären Gemeinschaft ohne "Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft", wie der Cyberrechtler John Perry Barlow 1996 in seiner "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" formulierte. ("Geschlecht" würde man heute ergänzen.)
Nicht die Insignien der Macht, sondern einzig und allein die besseren Argumente seien die Währung in Online-Communities, der Mensch und seine Kommunikation wären "frei".
Toxische Enthemmung
Wer sich heute in Online-Foren (auch auf KURIER.at) bewegt, weiß schmerzhaft, wie weit hier Utopie und Realität auseinander klaffen. "Freiheit bedeutet auch Enthemmung", erklärt die Digitaljournalistin Ingrid Brodnig. Und Enthemmung hätte zwei Seiten: Eine positive ("Etwa, wenn Schüchterne mutig werden.") und eine toxische: "Wenn Leute nur auszucken, aber nichts dazulernen. Keiner reift dabei heran."
Wie die "enthemmte" Kommunikation der Foren-User und in Folge deren gesellschaftliches Miteinander aussieht, hat die Autorin in ihrem ersten Buch "Der unsichtbare Mensch" (Czernin-Verlag) untersucht. Der Titel ist bewusst gewählt: Nicht Anonymität, sondern vielmehr die Unsichtbarkeit des Gegenübers seien das Problem. Denn Unsichtbarkeit, so Brodnig, fördere ein Gefühl der Distanz und der Konsequenzenlosigkeit, vor allem durch das Fehlen nonverbaler Signale: "Diese Art der sozialen Sanktionierung fällt online weg."
Real Life vs. Online-Kommunikation
Ein Film einer amerikanischen Studentengruppe zeigt eindrucksvoll die Unterschiede auf: Was würde geschehen, wenn wir uns “offline” ebenso verhielten wie online?
Zivilisationsprozess
Warum wird diese Debatte ausgerechnet jetzt so virulent? Weil die Online-Präsenz zunimmt, das Web immer größere Bereiche unseres Lebens einnimmt. Durch die zunehmende Verschmelzung von "online" und "offline", werde es "immer wichtiger, was online über einen gesagt wird" (Brodnig). Das Bedürfnis nach Regeln des sozialen Umgangs wächst. "Online findet derzeit ein Zivilisationsprozess statt, den wir offline längst hinter uns haben." Dafür sei die Klarnamen-Debatte allerdings müßig: Die Zuordnung von Postings zu fixen Identitäten – selbst wenn diese fiktiv sind – wiege mehr als die Aufhebung der Anonymität.
Auch Martin Blumenau, FM4-Blogger der ersten Stunde, sieht die Debatte um Klarnamen als Nebenschauplatz. Es ginge eher um Verwundbarkeit, um Angreifbarkeit. "Einerseits ist es ja etwas Schönes, angreifbar zu sein, weil es etwas Haptisches und sehr Menschliches ist, andererseits bin ich dadurch, dass ich als Blogger öffentlich zu Themen Stellung beziehe, natürlich sehr exponiert."
Keine dicke Haut
Häufigster Ratschlag an Blogger oder Foren-Nutzer: "Lasst euch halt eine dickere Haut wachsen!" Brodnig schüttelt den Kopf, das sei keine gute Idee, es könne nicht darum gehen, Sensibilität abzubauen. Im Gegenteil Empathie und Zivilcourage gehörten online gefördert.
Schwierig ist da die Grenzziehung. Foren von Online-Medien (auch unseres) bestehen gut zur Hälfte aus Postings, die "Zensur!" schreien und sich über jedwedes Einschreiten der Moderation echauffieren. Credo: "Eine Demokratie muss kontroverse Meinungen aushalten, ihr Lösch-Nazis!" Für sehr viele Poster – insbesondere in Österreich – beinhaltet die Meinungsfreiheit eben nicht nur die Freiheit, jeden Standpunkt einnehmen zu dürfen, sondern auch jede Tonalität. "Hier muss ein Umdenkprozess stattfinden", sagt die Autorin, "Debatte: ja. Untergriffe: nein. Die Meinungsfreiheit endet dort, wo Menschen gezielt verletzt werden." Oft wären Community-Manager zu tolerant: Während etwa beim beliebten Vorzeige-Beispiel Zeit Online sehr rigide durchgegriffen wird, würden in Österreich zwar direkte Beschimpfungen gelöscht, "eine gewisse Art von Trollerei aber geduldet." Das Gesprächsklima im Zeit Online Forum gibt indes den Deutschen recht.
Strenge oder Laissez-Faire?
Allerdings stecken dahinter zwölf Moderatoren, die täglich von 7 Uhr bis 23:30 Uhr im Einsatz sind. Von solchen Ressourcen können österreichische Medien nur träumen. Blumenau: "Als der ORF noch unter seinen Artikeln Foren hatte, gab es genau eine Person, die diese betreut hat." Nachsatz: "Der ging es oft nicht sehr gut..." Dennoch gibt sich der Blogger hoffnungsvoll, er halte den gemeinen Foren-Troll für eine aussterbende Spezies, zumal sich Diskussionen mehr in Social Media Kanäle verlagerten, dort könne man ungute Zeitgenossen schlichtweg blocken.
Troll oder Flausch
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Buch
Das Buch "Der unsichtbare Mensch. Wie die Anonymität im Internet unsere Gesellschaft verändert" von Ingrid Brodnig ist im Czernin-Verlag erschienen und behandelt die Facetten der Anonymität - von Trollen bis zur NSA.
Termin
Am 26. März findet im fjum (Forum für Journalismus und Medien) eine Diskussionsveranstaltung zum Thema Anonymität und Online-Foren statt. Informationen demnächst auf: fjum-wien.at
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