© Jakob Steinschaden, St. Martin Press

Rezension

Digital Vertigo: Buch gegen das Social Web

Im

im Sommer 2011 hat er bereits exklusiv darüber gesprochen, jetzt ist es draußen: Mit dem Buch “Digital Vertigo” fährt Autor und Techcrunch-SchreiberAndrew Keeneinen Großangriff gegen das Social Web - also genau jener Internet-Branche, in der er lebt und arbeitet. Das Timing könnte nicht besser sein - schließlich hat Keens größter Gegner Facebook soeben seinen Börsengang durchgeführt.

“Digital Vertigo” ist eine Attacke von innen auf das System “Silicon Valley”, das sich seit einigen Jahren dem “Kult des Sozialen” verschrieben hat, eine Attacke auf das Zeitalter des Exhibitionismus und eine Attacke gegen jene Internet-Unternehmer (z.B. Reid Hoffman, Biz Stone, Mark Zuckerberg), mit denen sich der Autor ständig auf elitären Internet-Konferenzen tummelt.  “Das Buch, das Sie lesen, ist eine Verteidigung des Mysteriums und Geheimnisses der individuellen Existenz”, schreibt Keen in der Einführung - ein “antisoziales Manifest”, dass sich gegen ein Web der echten Identitäten wendet, wie es Facbook, Google+ oder LinkedIn vorbeten.

Gereifter Schreiber mit Einblicken
Keen (52), der mit “Die Stunde der Stümper” vor einigen Jahren ein reißerisches Buch über die “Verdummungsmaschine Internet” herausgebracht hat, präsentiert sich als gereifter Schreiber. Als gefragter Sprecher ht er auf Konferenzen und über seinen Techcrunch-Job die Möglichkeit, einfach an sonst sehr zurückgezogene Web-Unternehmer wie Biz Stone von Twitter, Reid Hoffman von LinkedIn oder den Second-Life-Macher Philip Rosedale heranzukommen - was er auch gerne immer wieder erwähnt. Deren Ansichten über eine vernetzte Zukunft, in der jeder unter echter Identität im Netz auftritt, hält er Rückblicke auf Geschichte und Ereignisse der vergangenen 250 Jahre entgegen, die er sich angelesen bzw. vor Ort nachrecherchiert hat.

Besonders angetan hat es Keen dabei das Panopticon, eine Gefängnis-Konstruktion des britischen Juristen und Philisophen Jeremy Bentham aus dem Jahr 1787. Der Rundbau soll es den Gefängniswärtern ermöglichen, jeden Insassen zu jeder Zeit beobachten zu können, ohne dass dieser weiß, wann er beobachtet wird und wann nicht - ein totales Überwachungssystem mit dem Ziel, die Beobachteten tugendhafter, fleißiger und letztendlich glücklicher zu machen.

Die gleiche Idee sei auch das Grundprinzip von Facebook, aber “Mark Zuckerberg liegt falsch”, schreibt Keen. Vielmehr sei die Social-Media-Revolution eine Abwärtsspirale, die weniger individuelle Freiheit, schwächere Beziehungen und mehr Unglücklichsein zur Folge hätte. Keen befürchtet ein neues Mittelalter, die das Ideal der Privatsphäre, das die industrielle Revolution gebracht hätte, vergessen lässt - mit einer digitalen Aristrokatie an der Spitze, die die Überwachungstechnologien kontrollieren. Internet-Dienste wie Klout, die den Einfluss von Social-Media-Nutzer messen, würden dem neuen Kastenwesen die passenden Bewertungen liefern.

Einige Verirrungen inklusive
Als roten Faden hat sich Keen den titelgebenden Hitchcock-Film “Vertigo” geschnappt - und zwar nicht nur, weil das Echtzeit-Netz mit seiner Informationsflut für Schwindelzustände beim Nutzer sorgen könnte, sondern auch, weil er in der Bay Area des Silicon Valley spielt. Zwar klappen die Vergleich zwischen Kinoklassiker und Istzustand der Internet-Welt nicht immer. Da liest sich der Rückblick in die Hippie-Zeit - quasi den Wurzeln von Apple-Gründer Steve Jobs und der Electronic Frontier Foundation - schon spannender.

Zwischendurch verrennt sich Keen dann leider in Abhandlungen über Bau und Brand des Londoner Crystal Palace oder die Oscar-Verleihungen 2011 (“The King`s Speech” besiegt “The Social Network”), ohne wirklich klarmachen zu können, was das jetzt genau mit seiner Kritik an Social Media zu tun hätte. Auch der Fokus auf seine eigenen Reisen (z.B. London, Oxford, Amsterdam) und dortigen Eindrücke (v.a. in historischen Gebäuden) sind vielleicht nicht jedermanns Sache. Unstimmig ist schließlich das Cover, das sich mit Hashtag und Keens Twitter-Namen (@ajkeen) mit Social-Media-Gepflogenheiten schmückt, gegen die Keen ja eigentlich anschreibt.

Insgesamt ist das etwa 200-seitige Werk, das mit einem Plädoyer für Privatsphäre endet, dann aber doch eine durchaus spannende Sache. Zwar ist Keen bei weitem nicht der erste, der “1984” und “Brave New World” durchgeackert hat und in Beziehung zur Gegenwart setzt, doch als nicht unwichtiger Player im Silicon Valley ist seine Sicht der Dinge doch interessant und kurzweilig zu lesen.

Digital Vertigo: How Today`s Online Social Revolution Is Dividing, Diminishing, and Disorienting Us” ist im Mai 2012 bei St. Martin`s Press erschienen.

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