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Fiction

Nur nicht den Kopf verlieren

Linus fluchte. Laut und ausgiebig. Er wunderte sich selbst über die Auswahl an Schimpfworten, die seinen Mund verließ. Wahrscheinlich war es die Erschöpfung, die ihn vergessen ließ, wo er sich befand. Die Wände waren dünn in seinem Wohnhaus. Dünn und neu, obwohl sie so taten, als wären sie alt. Linus bereute den Tag, an dem er sich entschlossen hatte, in den Retrobau zu ziehen.

Aus neu mach alt

Oldfashioned fancy, leben wie früher, entschleunigt, relaxed und selbstbestimmt. Phrasen aus dem Flyer der Wohnbaugesellschaft, die ihn überzeugt hatten. Unterstrichen von überbelichteten Bildern von Stiegenhäusern mit Bassena-Waschbecken, Hinterhöfen mit Blumen, um die sich die Bewohner kümmern mussten. Zimmer ohne Klimaanlage, mit Fenstern, die man selbst öffnen musste. Balkone ohne Verglasung, auf denen man der Natur ausgeliefert war. Und Türen mit Schlössern.

Keine Attrappen, wie in anderen, billigeren Häusern. Richtige Schlösser, die man ölen musste, die im Winter manchmal vereist waren, in denen ein Schlüssel abbrechen konnte, wenn man ihn nicht mit Kraft umdrehte. Genau das war sein Problem. Wieder einmal. Sein Akku war schwach, die Finger nur noch schlecht bewegbar, und er brachte das silbern glänzende Metallstück einfach nicht in das Schlüsselloch. Es rutschte ihm durch die Finger der rechten und der linken Hand.

Er seufzte und lehnte sich gegen die Wand. In seinem Rücken knirschte es. Es würde nicht mehr lange dauern bis er auf Notversorgung umschalten würde. Fünf bis sieben Minuten, schätzte Linus. Er brauchte eine Ladestation. Oder die alten Arme. Die waren zwar ungenauer gearbeitet und man sah ihnen den günstigen Preis im Sommer schon von Weitem an, aber ihr Standby hatte weniger Energie verbraucht. Viel weniger. Praktischerweise lagerten sie eingemottet in Alusäcken im Kasten seines Schlafzimmers. Er wankte etwas hilflos und unelegant zur Tür seiner Nachbarin. Er kannte sie nur flüchtig. Von Begegnungen im Lift, von der Gießkannenübergabe im Hof, und einmal war sie in ihn hineingerannt, unten an der Haustür, und hatte ihn dabei in den Arm geritzt.

Schutzpanzer

Es war Sommer gewesen und sie hatte einen Torso ohne Stoff getragen. Einen dieser Sicherheitsdinger, die kleine Stacheln an den Schultern eingearbeitet hatten. Linus achtete sonst immer darauf, wenn er draußen unterwegs war. Aber diesmal hatte er keine Chance gehabt. Sie hatte sich nicht einmal entschuldigt, sondern war im Stiegenhaus verschwunden, und Linus erinnerte sich nur an ihre grünen verächtlichen Augen und den glänzenden Kopf. Er wusste nicht einmal ihren Namen. Er stand auch nicht an ihrer Tür, dabei war das Teil des Gemeinschaftsabkommens gewesen, das sie beim Einzug unterzeichnet hatten. Sie besaß auf jeden Fall eine dieser chicen überteuerten alten Türklingeln mit Metallknopf. Ein Schalter wäre Linus lieber gewesen.

Die rechte Hand hatte nun endgültig aufgegeben und auch der Arm ließ sich nicht mehr heben. Links waren zwar noch Mittel- und Ringfinger mobil, der Arm baumelte jedoch schlaff am Rumpf. Linus bückte sich, so gut es ging, und rammte seine Stirn gegen den kleinen Metallknopf. Endlich. Das Schrillen einer Glocke ertönte. Es war dieser eine Retro-Ton, der sofort alles über die Bewohner verriet. Linus wusste, was ihn hinter der Tür erwarten würde. Zimmerlampen, die an Kabeln hingen, mit Schaltern am anderen Ende des Raumes, die sich nicht automatisch bedienen ließen. Eine Kaffeemaschine in der Küche, eines dieser monströsen Stücke aus dem vergangenen Jahrhundert. Auf jeden Fall eine Bücherwand mit Büchern aus Papier.

Linus hasste den Geruch von Büchern. Die Tür öffnete sich, und Linus vergaß den Glockenton. Er vergaß seinen Ekel vor Papier, für einen Moment vergaß er sogar, warum er angeläutet hatte. Statt der Person, die er erwartet hatte, stand jemand anderer vor ihm. Sie war weitaus kleiner als er. Kopf und Torso unbedeckt, ohne Haare oder Kleidung und mit Sicherheit, das erkannte sein Expertenblick sofort, ein Produkt der allerneuesten Generation. So wie die Augenhöhlen geformt waren und die Schultern glänzten, konnte sie nur ein halbes Jahr alt sein. Bei außergewöhnlich guter Pflege vielleicht ein Jahr.

Rettung

Sie lächelte, warf einen Blick auf seine schlaffen Arme und erfasste sofort die Situation. „Einmal aufladen?!“ Linus nickte wortlos. Dann fasste er sich. Als sie zur Seite ging, um ihn einzulassen, fand er endlich seine Sprache wieder. „Leider nicht nur. Ich muss umstecken. Aber der Schlüssel ...“ Er deutete mit dem Kinn auf den Schlüsselbund, der vor seiner Tür lag. Sie nickte. „Ah, du bist Suses Nachbar? Der Distanzlose. Hat sie dich nicht sogar mal am Arm erwischt?“

Suchend blickte sie auf seine Unterarme. Linus wehrte sich, während sie den Schlüssel aufhob und mit Leichtigkeit die Tür öffnete. „Ich habe die Distanz nicht verletzt, es war ein Unfall.“ Sie lachte und betrat seine Wohnung. „So, so. Wo sind denn deine Ersatzteile?“ Linus folgte ihr und schämte sich ein wenig für den Zustand der Zimmer. Alles war um diese Uhrzeit eingeklappt und ausgeschaltet. Vor ihnen lagen leere, dunkle Räume mit einem schwarzen Glasboden, in dem sie sich spiegelten. „Wo ist denn dein Zeug?“, fragte seine Besucherin auch sofort. „Muss ich erst ausklappen“, murmelte er beschämt. Wieder lachte sie. „Ich bin das gar nicht mehr gewöhnt, bei Suse gibt es nur Holzmöbel.“ Sie gingen in das letzte Zimmer nach hinten.

Beeil dich

Linus konnte sich nur noch schwer aufrechthalten. Der Akku schien seinen letzten Saft zu verlieren. „Beeil dich“, stöhnte er, „die Schalter sind unten neben der Tür.“ Die junge Frau fand sie sofort und drückte alle drei. Ein Bett fuhr aus dem Boden hoch und faltete sich auf, ein weißer Kleiderschrank im Holzlook folgte an der rechten Wand. „Imitate“, kommentierte sie kopfschüttelnd. Linus hörte kaum noch etwas.

Mit letzter Kraft ließ er sich aufs Bett fallen, während sie den Schrank öffnete. Sie schien stärker zu sein, als er vermutet hatte. Innerhalb weniger Sekunden landeten seine alten Arme neben ihm am Bett. Sie setzte sich lachend zu ihm. Die Situation schien sie immer mehr zu belustigen. „Die sind ja uralt. Aber umstecken schaffst du allein, oder?“ Ihre Augen blitzten und Linus fragte sich, ob es ein Spezialeffekt oder doch organisch war. „Tut mir leid, ich schaff heute gar nichts mehr.“ Sie kicherte erneut.

Mit ein paar geübten Griffen entfernte sie zuerst sein Hemd, dann den rechten und den linken Arm. Ihr Blick blieb auf seinem Torso hängen. Linus bemerkte es stolz. Er hatte die unterste Schicht, die durch die Glasfasern durchschien, in den letzten Jahren besonders trainiert und war bewundernde Blicke gewöhnt. Von Frauen und Männern. Sie nahm seine alten Arme, prüfte die Akkus und schnallte sie ihm an. Danach setzte sie sich plötzlich rittlings auf seine Brust.

„Ich heiße Charlotte“, sagte sie und senkte ihren Kopf, bis ihre Stirn die seine berührte, und ihre Augen auf seinen lagen. „Wie heißt du?“ Linus konnte kaum atmen. „Linus“, presste er heraus.

Kopfkino

Er war aufgeregt und gleichzeitig hatte er plötzlich Angst. „Komm, Linus, machen wir es mit dem Kopf!“, flüsterte sie leise in sein Ohr. „Das hast du noch nie gemacht, wetten?!“ Das stimmte. Linus hatte davon gehört, aber niemals hatte er es selbst versucht. Er war immer zu ängstlich gewesen. Bis jetzt.

Plötzlich kannte er keine Angst mehr. Er wollte sie spüren. Das ultimative Erlebnis haben. „Ja“, sagte er. „Machen wir es mit dem Kopf.“ Es dauerte nur wenige Sekunden und er spürte ein Gefühl, das ihm durch Mark und Bein ging, eine Wärme, die er noch nie zuvor empfunden hatte. Es wurde mit jedem Moment intensiver und besser. Und als er dachte, er könnte es kaum noch ertragen, verlor er das Bewusstsein.

Körper

Es stank. Ein unerträglicher Geruch lag in seiner Nase. Linus öffnete die Augen. Da sah er die Ursache. Ein Blatt Papier. Es lag am Bettende. Linus richtete sich auf. Da bemerkte er, dass irgendetwas nicht stimmte. Irgendetwas war anders. Die Decke rutschte nach unten, und er sah ungläubig an sich herab. Panisch sprang er aus dem Bett und sah in den Spiegel. Sein Kopf steckte auf einem zierlichen Frauentorso. In diesem Augenblick flatterte das Papier zu Boden. „Immer schön Distanz halten“, stand darauf.

Barbara Kaufmann hat an der Wiener Filmakademie Drehbuch studiert und lebt als freie Filmemacherin und Autorin in Wien. Sie wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Carl Mayer Drehbuchpreis.

Sie war langjährige freie Mitarbeiterin bei Ö1, hat für ORF und ATV gedreht, Texte für das Magazin Datum verfasst und war leitende Redakteurin bei NZZ.at. Aktuell schreibt sie eine Kolumne in der Tageszeitung KURIER und arbeitet am Drehbuch für ihren ersten Spielfilm.

Die erste Kurzgeschichte: Workout bis ans Ende der Welt

Am Sonntag (31. Dezember) lest ihr die dritte Kurzgeschichte mit dem Titel: "Die Küche, die niemals verzeiht"

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