Kultur im wandel

Pop-Zukunft: Hörer rückt in den Mittelpunkt

Seinen überraschendsten Moment hatte das Neujahrskonzert 2011 nach seinem Ende. Denn wenige Minuten nach dem letzten Ton meldete sich der Dirigent bei seinem Publikum. Nicht im Fernsehen, nicht im Radio - sondern über die Online-Plattform Twitter. Dort kann man kurze Nachrichten veröffentlichen, die jeder lesen kann. "Jetzt ist es getan! Entschuldigung, dass ich nicht twittern konnte", schrieb Franz Welser-Möst dort. Dass er aber unmittelbar nach dem Konzert - ein wenig wie ein Teenager mit Dauerfeuer-Daumen am Handy - sofort wieder ins Internet ging, zeigt endgültig: Auch die Klassik-Welt, selbst das von Tradition durchdrungene Neujahrskonzert, ist im Internetzeitalter angekommen und dort zum Teil einer anhaltenden Revolution geworden: Neue Technologien beeinflussen, wie wir Kultur wahrnehmen, erwerben - und künftig verstehen werden. In den kommenden Tagen werfen die KURIER-Kulturredaktion und die Futurezone in dieser Serie gemeinsam einen Blick in die Zukunft der Kultur.

Erstes Opfer Musikindustrie


Der erste Bereich, der betroffen war, war der Musiksektor. Seit 1999 wird der Musikkonsum von Technik-Neuerungen immer wieder auf andere Beine gestellt, das Resultat ist bekannt: Der CD-Verkauf ist um die Hälfte eingebrochen. Das Musik-Business versuchte, mit mehr oder weniger originellen Ideen (wie Klagen gegen Downloader) gegenzusteuern. Mit gemischtem Erfolg.

Zu Beginn des zweiten Jahrzehnts dieser Kulturrevolution aber stehen die Zeiger wieder (fast) auf null. Live-Spielen galt zuletzt als Ersatz-Geldquelle für Musiker: Statt CDs wurden immer teurere Konzertkarten verkauft. Aber der Plafond ist erreicht: 2010 wurde in den USA ein derart starker Besucherrückgang verzeichnet, dass viele Pop-Konzerte abgesagt wurden.

Im Vorfeld der internationalen Musikmesse MIDEM in Cannes ist der Tenor nun ein anderer: Geld ist künftig dort zu machen, wo Musik ein soziales Erlebnis ist. Auf Facebook Urlaubsfotos von Opernsänger Thomas Hampson anzusehen oder auf Twitter die "Gedanken" von Teenie-Idol Justin Bieber zu lesen, gibt den Fans etwas, das zuvor kaum zu haben war: das Gefühl von Nähe zu ihren Idolen.

Neue Nähe zum Star

Was früher das begehrte Backstage-Ticket war, ist nun der Online-Blick hinter die Kulissen des Star-Lebens. Und dafür ist man gerne bereit, auch mal in die Tasche zu greifen. Oder das eigentlich wertvollste Gut im Internet herzugeben: die eigenen Daten. Denn Musik wird in Zukunft nicht vom Einzelnen, sondern hauptsächlich von Unternehmen gekauft werden, die damit Emotionen erwerben - und eMail-Adressen, Wohnorte und Nutzerprofile. So lernen auch die Musiker immer genauer, wer ihre Fans sind.

Der Fokus auf das Soziale gilt auch umgekehrt: Künstler werden sich künftig noch viel direkter an ihr Publikum wenden. Und zwar via Technologie: Nicht die großen Musik-Labels, sondern Start-up-Unternehmen versprechen Musikern direkte Kommunikation mit Fans. Sie ermöglichen maßgeschneiderte Konzert-Übertragungen auf das Handy, bauen Musik in Computer-Spiele ein und lassen jedermann zum Mit-Musiker oder Remixer werden.

Eine Gemeinsamkeit gibt es in der revolutionären Vielfalt: Im Mittelpunkt steht nicht der Star, sondern der Hörer. Und das Internet ist nicht nur Vertriebskanal. Sondern wird essenzieller Teil von Musik. Vielleicht wird ein Neujahrskonzert-Dirigent einst also doch schon während des Walzer-Events twittern.

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(Georg Leyrer, Jakob Steinschaden)

Die Revoluzzer der Branche:
Mit eingerosteteten Marktmechanismen und starren Verwertungsketten zu brechen - dafür sind diese Künstler und Bands bekannt geworden:
Peter Gabriel Er (u. a. Genesis) gilt als Hightech-Visionär der Musikbranche, der Trends in der Musikdistribution früh erkannte. Bereits 1999, also vier Jahre vor Apples "iTunes Store", startete er mit "OD2" einen Internet-Shop für Musik. OD2 machte aber nur Verluste und gelangte über Weiterverkäufe 2006 an Nokia.
Marillion Die Progrock-Band aus Großbritannien ist der Vorreiter beim sogenannten "Crowdfunding": Über eine Internet-Kampagne sammelten sie 60.000 US-Dollar von ihren Fans, um ihre 1997er-US-Tour und spätere CD-Aufnahmen zu finanzieren.
Radiohead Die britische Rockband veröffentlichte 2007 ihr Album "In Rainbows" als Download auf ihrer Webseite. Die Fans konnten selbst einen Betrag zwischen 0 und 99,99 Dollar wählen, den sie für die Songs zahlen wollten. 1,2 Millionen Mal wurde das Album heruntergeladen, im Schnitt zahlten die Nutzer sechs Dollar. "Wir haben mit dem Album mehr Geld gemacht als mit allen unseren anderen Alben zusammen", sagte Yorke damals.
Trent Reznor Der Sänger und Kopf der Industrial-Rockband Nine Inch Nails stellte seine Alben "Ghosts I-IV" und "The Slip" Monate vor der offiziellen CD-Veröffentlichung als kostenlosen Download ins Internet. Geld macht Reznor als Produzent, etwa beim Soundtrack zum Facebook-Film "The Social Network".

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