© Jeff Mangione

Österreichische Nationalbibliothek

„Wir denken in Ewigkeitskategorien“

Regelmäßig wird ein Container, voll beladen mit Büchern, per bewachtem Kunsttransport an einen geheimen Ort in Deutschland gebracht, wo der Internet-Gigant Google die Bücher scannt. Mehr als 100.000 Bücher der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) - über 25 Millionen Seiten - wurden bereits digitalisiert. 500.000 Bücher werden – darunter auch die Privatbibliothek der Habsburger - in den nächsten Jahren eingescannt. Geht es nach dem Wunsch von ONB-Generaldirektorin Johanna Rachinger, so sind bis 2025 alle 3,7 Millionen Druckschriftenbestände der ÖNB digitalisiert.

„Das ist eine Vision“, sagt Rachinger im futurezone-Interview. „Eine Institution, die sich mit Wissen beschäftigt, muss sich darauf vorbereiten, wie das Wissen in der Welt von Morgen aufbereitet wird.“Die Digitalisierung sämtlicher Inhalte sei ein wesentliches strategisches Ziel der Nationalbibliothek, „das hat mit der Demokratisierung des Wissens zu tun, denn wir sind ja ein großer Wissensspeicher. Zudem müssen möglichst viele Inhalte über das World Wide Web zur Verfügung gestellt werden. Denn das, was nicht im Web ist, wird bald nicht mehr wahrgenommen werden.“ Voraussetzung, dass diese Vision real wird, ist, dass die Frage des Urheberrechts geklärt ist.

Ein Meilenstein
Der Vertrag mit Google sei „ein Meilenstein" gewesen. „Wir waren die erste Nationalbibliothek, die begonnen hat, mit Google operativ zusammen zu arbeiten. Dazu hat es zwar die eine oder andere kritische Stimme gegeben, aber es hat sich ausgezahlt, dass wir Vorreiter waren. Wenn heute ein Buch aus dem 17. Jahrhundert, das es nur im Prunksaal gibt, plötzlich auch von einem Forscher in den USA gelesen werden kann, hat das mit Demokratisierung des Wissens zu tun", so Rachinger. „Wir haben einen ordentlichen Vertrag ausverhandelt.

Wir hätten ein solches Digitalisierungsprojekt nie alleine machen können. Das hätte uns bzw. der Öffentlichen Hand 40 Millionen gekostet." Transport, Versicherung und das Digitalisieren wird von Google bezahlt. Rachinger: „Das Digitalisierungs-Projekt ist ein Beispiel für eine perfekte PPP – Private-Public-Partnership." Mit 13 europäischen Bibliotheken hat Google bis dato einen Vertrag abgeschlossen, nach der ÖNB die British Library und etwa die Nationalbibliothek der Tschechischen Republik.

Bibliothek 3.0
Der Scan-Prozess ist im übrigen kein trivialer, denn die Bücher werden nicht nur einfach eingescannt, sondern per OCR (Optical Character Recognition/Optische Zeichenerkennung) bearbeitet, sprich mit einem Texterkennungsprogramm behandelt, damit innerhalb der Bücher gesucht werden kann. Und bei alten Büchern ist die OCR insofern gefordert, als die Texterkennung auf Gegenwartssprache optimiert ist. Beim Digitalisierungsprojekt sind auch Werke aus dem 17.Jahrhundert dabei.

Die Texterkennung ist wiederum Voraussetzung für die, wie es Rachinger nennt, „Bibliothek 3.0". Die Datenbestände der ÖNB werden Teil des semantischen Web, werden nicht nur digitalisiert, sondern in Zukunft auch semantisch aufbereitet sein. Das bedeutet: Die Bücher können per Volltextsuche durchsucht werden und sind mit Metadaten, also mit anderen Informationen im ÖNB-System, verknüpft. In einem nächsten Schritt etwa mit Geodaten, mit Personendaten, mit verschiedenen Themenbereichen. Rachinger: „Auf Basis der Semantik können wir dann Services wie visuelle Such-Interfaces oder visuelle Suchergebnisse anbieten."

Das Web@rchiv Österreich
Die Bibliothek der Zukunft ist in zwei Welten präsent – als physischer Ort, zu dem Menschen kommen, um in den Lesesälen zu arbeiten (etwa 800 Besucher pro Tag) und als virtueller Ort, den Menschen in der ganzen Welt nutzen können – knapp 60 Millionen Zugriffe auf die ÖNB-Site wurden 2012 registriert. Die Zahl der virtuellen Besucher, die den Quicksearch-Katalog (von Ex Libris) durchblättern, steigt ständig (6 Millionen waren es 2012), allerdings könnten es mehr sein, denn die ÖNB ist mit einer skurrilen Situation konfrontiert:

Unzeitgemäßes Urheberrecht
Seit drei Jahren speichert die ÖNB im „Web@rchiv Österreich" österreichbezogene Internet-Inhalte, um sie für die Nachwelt zu archivieren. Aber: Die virtuelle Bibliothek, die bereits 28 Terabyte (28.000 Gigabyte) groß ist, kann man nicht via Web, sondern nur in den Räumlichkeiten der ÖNB besuchen. „Dazu zwingt uns das Urheberrecht und das müssen wir akzeptieren", so Rachinger. Sie ist überzeugt, dass das komplexe Thema Urheberrecht der Zeit angepasst wird, „es machen sich derzeit ja viele Leute Gedanken, auch Experten aus meinem Haus sind in den verschiedenen internationalen Gremien vertreten. Man muss einen Weg finden, dass das geistige Eigentum auch im digitalen Zeitalter geschützt und auch abgegolten wird." Die derzeit diskutierte Festplattenabgabe könnte laut Rachinger ein Weg in diese Richtung sein.

Wissen für die Ewigkeit
„Die Webarchivierung macht aber in jedem Fall Sinn, denn es soll ja nichts verloren gehen. Anders als ein Unternehmen, das langfristig denkt, denken wir als Archivbibliothek in Ewigkeitskategorien. Wir haben eine Verantwortung gegenüber späteren Generationen, das, was heute erscheint, für die Nachwelt zu archivieren." Da die ÖNB mit der Digitalisierung erst begonnen habe, als das Internet-Zeitalter schon 20 Jahre alt gewesen sei, sei ohnehin viel verloren gegangen. „Wenn man in hundert Jahren den Zustand Österreichs erkennen möchte, muss auch das, was sich im Internet abgespielt hat, berücksichtigt werden."

Mehr zum Thema

Die ÖNB:
Die mehr als 100.000 Bücher aus dem Google-Digitalisierungs-Projekt sind bereits über Google-Books abrufbar, noch im Frühjahr über die Seite der ÖNB und demnächst über die europäische digitale Bibliothek Europeana. Auch die ÖNB führt viele eigene Digitalisierungsprojekte durch: In den vergangenen Jahren wurden mehr als 450.000 Fotografien und Porträts digitalisiert, die  abrufbar sind. 2012 wurde die große Plakat-Digitalisierung abgeschlossen. Pro Jahr werden 1,8 Millionen historische Gesetzestexte und Zeitungsseiten digitalisiert, derzeit liegt man bei 12 Millionen. Gegenwärtig läuft in der ÖNB das Projekt, 75.000 historische Ansichtskarten zu digitalisieren. Auch die audiovisuellen Bestände im Literaturarchiv, in der Musiksammlung, im Volksliederarchiv werden digitalisiert; darunter etwa Kassetten des Literaten Ernst-Jandl. Von der 180.000 Exemplare umfassenden Papyrus-Sammlung wurden bis dato jene 6000 gescannt, die wissenschaftlich bearbeitet wurden. Und ein Projekt, das vor allem für das Musikland Österreich bedeutend ist, ist die Digitalisierung von über 1000 wertvollen Originaldokumenten der bedeutendsten Komponisten der Musikgeschichte.

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