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Peter Glaser: Zukunftsreich

Auf dem Weg aus dem Einen ins Viele

In der Zeit vor dem Internet erklärte ein ehemaliger Exekutivdirektor der Weltbank, die Wirtschaft sei der Untergang der Welt. Sie erlaube es, dass die Dänen jedes Jahr tonnenweise Kekse in die USA exportieren und die USA ebenfalls tausende von Tonnen Keksen nach Dänemark. Die Keksfrachtschiffe verbrauchen tausende Tonnen Erdöl. "Warum", fragte der Manager, "tauschen sie nicht einfach ihre Rezepte aus?"

Das Prinzip ist inzwischen weiträumig realisiert. Es heißt "Sharism” – jenes durch das Internet verstärktes Bedürfnis, Dinge mit anderen zu teilen, to share. Im Netz lassen sich nun mit der selben Freude Dinge produzieren und austauschen, mit der zuvor konsumiert wurde. Auf der Suche nach Handlungsgrundlagen für das angehende 21. Jahrhundert erweist sich das Internet in seiner Vielfalt nicht nur als Quelle zukunftsmächtiger Ideen, sondern auch als globaler Wirtschaftsraum und eine neue Umweltbedingung – etwas, das uns ständig umgibt.

Wir besiedeln den achten Kontinent – die digitale Welt
Das Zeitalter der Eroberungen ist vorbei. Nun besiedeln wir den achten Kontinent, die digitale Welt. Als Mayer Amschel Rothschild im Juni 1815 per Brieftaube vom Ausgang der Schlacht bei Waterloo erfuhr, konnte er seinen Informationsvorsprung noch in eine Börsenspekulation ummünzen, die zur Grundlage seines legendären Vermögens wurde. Jetzt ist Veränderung der Zustand. Während wirtschaftliche, politische und organisatorische Strukturen um Echtzeitstrategien, immer mehr Effizienz und immer größere Geschwindigkeit bemüht sind, fehlt es, um der zunehmenden Komplexität angemessen entgegentreten zu können, an einer einer Ethik als Gegenkraft.

An den Ausbildungsstätten künftiger Führungskräfte wie etwa der Harvard Business School ist ein geradezu explosionsartig anwachsendes Interesse an Themen zu verzeichnen, die Verantwortung, Ethik und das Gemeinwohl berühren. In der Ära nach Enron, Lehman Brothers und Bernie Madoff gehört die soziale Verantwortung von Unternehmen für die Studenten zum Kanon der Wertefragen. Business ist für sie mehr als nur ein Weg zum Reichtum. Sie wissen, dass Armut nicht auf Afrika oder Indien beschränkt ist. Sie sehen Ungerechtigkeiten. Und sie sehen die Möglichkeit, als Unternehmer etwas dagegen zu tun.

Fragen, die den ganzen Planeten umfassen
Eines der großen Probleme der Gegenwart ist, dass die Moral des Einzelnen von dem globalen Zustrom an Informationen ständig überfordert ist. Ethik muß sich auf Fragen beziehen, die den ganzen Planeten umfassen, nachhaltiges Wirtschaften etwa, oder auf Standards, die Fortschritte international erfaßbar machen, etwa bei der Abschaffung von Kinderarbeit. Und Ethik sollte zugleich im Regionalen beheimatet sein – Moral war seit jeher eine Domäne der Nahwelt. Eine ortlose Transnationalität im Netz, die nicht an möglichst vielen Stellen in realen Lebensräumen wurzelt, ist zu unverbindlich.

Ein - dem Fußball angemessenes - rundes, ganzheitliches Bild
Im globalen Maßstab ist es schwierig, von nur einer Ethik zu sprechen. Wir haben es mit Ethiken zu tun. Das Internet ist der Inbegriff der Entwicklung: Wir sind auf dem Weg aus dem Einen ins Viele. Der Schiedsrichter bei einem Fußballspiel ist das Inbild der alten Zeit. Er ist mit seiner singulären Sicht auf dem Spielfeld in einer wesentlich schlechteren Position als jeder Zuschauer vor dem Bildschirm seines Fernsehers oder Computers. Er betrachtete die Welt immer noch von einem vereinzelten Standpunkt aus, der ihn angesichts der elektronischen Multiperspektive hoffnungslos ins Hintertreffen geraten läßt. In kritischen Situationen auf dem Spielfeld muß der Schiedsrichter aus seiner subjektiven Position heraus entscheiden, obwohl ihn eine beunruhigende Medien-Objektivität umgibt: Der Zuschauer auf dem Sofa sieht im Lauf der nächsten Sekunden die Situation aus unterschiedlichen Kamerapositionen, in Zeitlupe wiederholt, und kann sich ein - dem Fußball angemessenes - rundes, ganzheitliches Bild machen.

Zu den Grundlagen der Ethik gehört heute, dass wir mehr Positionen zulassen müssen als bisher. Fortschritt bedeutet immer eine Zunahme an Unterschieden.

Peter Glaser Zukunftsreich

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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