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Peter Glaser: Zukunftsreich

Auf dem Weg in den Terabyte-Totalitarismus?

Manche wünschen es, viele fürchten es: das Internet als Weltgedächtnis. Seit zwei Jahrzehnten überwächst das Netz den Planeten als ein neuartiges Mittel des Bewahrens. Weit über althergebrachte Kulturträger hinaus führen Digitalisierung und Vernetzung nun dazu, dass die Inselwelten des überlieferten Materials sich miteinander verbinden.

Die Welt verlinkt sich zu immer komplexeren Geflechten
All die Bücher und Bibliotheken, Fotokisten, Filmarchive, Korrespondenzen, Warenverzeichnisse, die Registerschränke mit Indizes und die Kartierungen von Weltteilen – die Berichte von Reisen nicht nur in die Geographie, sondern in alle Regionen, die ein menschliches Bewußtsein zu erreichen in der Lage ist –, verbinden sich über Links zu immer komplexeren Geflechten. Zu Abbildungen von Realität, die etwas Neues aus der schieren Quantität der Datenmassen schöpfen, deren Ansammlung in analoger Form zum Teil schlicht undenkbar gewesen wäre.

Die Konvergenz aller mit Fotos gefüllten Schuhkartons dieses Planeten in Bilddatenbanken wie Flickr, die Ozeane aus Filmschnipseln bei YouTube, die Momentaufnahmen des Web in seinen früheren Erscheinungsformen im „Internet Archive" oder dem Google Cache, die sich in immer mehr Straßen nach allüberallhin verästelnden Fassadenfluchten von Googles Street View lassen immer umfassendere Informationsmassen in einem Bereich zusammenströmen, dessen Funktion als Gedächtnis das englische Wort memory anschaulicher benennt als das deutsche Speicher.

Der Große Datenstrom
Diese rasch wachsenden Berge an Memorierenswertem, zu deren Handhabung früher Hubstapler nötig gewesen wären, gehen einher mit einer ungekannten Gewichtlosigkeit und Leichtigkeit, mit der sie sich computerisiert bewegen und durchqueren lassen. Damit nimmt gleichzeitig und bedenkenlos die Lust zu, immer mehr, noch mehr und letztlich alles dem Großen Datenstrom zufließen zu lassen.

Forscher wie Gordon Bell befassen sich seit Jahren mit der Frage, wie sich ein ganzes Leben digitalisieren läßt. Die unter dem Begriff "Life Caching" firmierenden Untersuchungen entstammen militärischen Projekten, bei denen Soldaten auf Patrouille oder im Gefecht nicht nur mit zusätzlicher Medienwahrnehmung über Helmkameras ausgestattet werden, sondern auch die nutzbringende Auswertung des so gewonnenen Materials sichergestellt werden soll. Bell digitalisiert versuchsweise alles, was er besitzt, aufgeschrieben, kopiert oder fotografiert hat. Das von ihm entwickelte technische Gedächtnis nimmt seine Telefongespräche auf, was er im Radio und sonst an Musik hört und im Fernsehen sieht. Jeder Tastendruck, jede Mausbewegung, jedes verschobene Fenster auf seinem Rechner wird aufgezeichnet. Die Speicheranforderungen sind erstaunlich moderat.

200 Terabyte für 530 Worte
Um alles für uns tun zu können, möchte das Netz alles über uns wissen. Der MIT-Wissenschaftler Deb Roy präsentierte eine atemberaubende Datensammlung, die er in den ersten zwei Lebensjahren seines Sohns angelegt hatte, um genau nachvollziehen zu können, wie das Kind seine ersten Worte lernt. Überall im Haus der Familie waren Kameras angebracht, mit denen 90.000 Stunden Video und 140.000 Stunden Audiomaterial aufgezeichnet worden waren – 200 Terabyte an Daten. Bis zu seinem zweiten Geburtstag, so die Auswertung, hatte der kleine Junge 7 Millionen Worte gehört und 530 eigene Worte gelernt.

Die Datenkraftwerke kommen
Das Beispiel gibt uns eine Vorstellung davon, was „erinnern" in einer gerade beginnenden Zukunft bedeuten könnte, in der immer größere Datenkomplexe in der planetaren Speicherwolke, der Cloud, Einzug halten und, während die Atomkraftwerke verschwinden, die Datenkraftwerke („Data Center") kommen.

Diesen Fundus vollumfänglich anzapfen zu können, ist für die einen eine wundervolle Vorstellung, für andere der Weg in den Terabyte-Totalitarismus. Die immer umfänglichere und detailliertere Aufzeichnung von allem und jedem birgt zudem ein Problem, das der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges in seiner Erzählung „Von der Strenge der Wissenschaft" auf den Punkt gebracht hat. Er berichtet darin von einem Reich, in dem die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit erreicht hat, dass die Kartografen eine Karte schaffen, „die genau die Größe des Reiches hatte und sich mit ihm an jedem Punkte deckte". Eine Karte, die genauso detailliert ist wie die Wirklichkeit verliert aber ihre Funktion.

Peter Glaser Zukunftsreich

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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