© Phillip Guelland, ap

Peter Glaser: Zukunftsreich

Berauschende Maschinen

Ein Staubkorn schwimmt auf meinem Auge. Wenn ich versuche, es anzusehen, treibt es wie ein Urtierchen in einem winzigen Hof aus Unschärfe über den Glaskörper des Auges. Hier verläuft eine interessante Grenze: Bis hier bin ich, davor ist Draußen. Wenn man den Blick von dieser Unschärfe-Amöbe mit Absicht wieder hinaus in die Welt läßt, kann es geschehen, dass einen ein wilder Schwindel erfaßt, weil das Durchsichtige und Offene im Auge, das scheinbar Unbegrenzte zwischen den beiden Enden des Blicks, für einen Augenblick (sic!) vollkommen klar wird. Man fühlt eine Angst hochschießen, mit dem Blick auszulaufen, wie ein angestochenes Eigelb, und verloren zu gehen in die Außenwelt.

Der Ort, an dem der Blick auf das Staubkorn trifft, ähnelt dem Ort, an dem das Sonnenlicht mit dem Licht eines Bildschirms zusammentrifft, nur dass wir es dort nicht mit einem Auslaufen zu tun haben, sondern mit einem Eintauchen, in eine Symbolwelt. Beide Erfahrungen erweitern die Welt, die eine auf erschreckende Weise, die andere begeisternd. Ich kenne noch eine ähnliche Erfahrung, die mit einer seltsamen Macht alles anders werden läßt. Sie ist freundlich und man macht sie beim Lesen. Es gibt Bücher, nicht viele und für jeden sind es andere, und in diesen Büchern wenige Absätze oder Sätze, die zur Folge haben, dass die Welt auf einmal höher und größer wird und man selbst mehr geworden ist, nachdem man den Blick aus dem Buch gehoben hat (und es spielt keine Rolle, ob es sich dabei um ein Papierbuch oder ein Ebook handelt).

Eine Kraft, die eine neue Art zu leben schafft
Die Computer-Euphorie, die in immer neuen Wellen viele von uns erreicht, hat einen anderen Charakter. Sie macht nicht einfach froh, sondern berauscht. Man wird, während man vor einer vermeintlichen Ausgeburt der Vernunft sitzt, vor einem Computer nämlich, nichts weniger als unvernünftig. Tatsächlich hat der Computer seine Karriere als eine Art Schnellrechenschieber zur Erzeugung ballistischer Tafeln begonnen, die von Militärs zur Berechnung von Geschoßbahnen benötigt werden. Inzwischen hat er seinen Status als beschränktes Werkzeug weit überschritten und sich auf bemerkenswerte Weise zu einer Kraft entwickelt, die eine neue Art zu leben schafft. Der Computer ist zum Symbol unserer Zeit geworden, und zum Anlaß für Fragen, wie sie zu früheren Zeiten nur Theologen und Philosophen gestellt haben.

Im Jahr 1945 schrieb Vannevar Bush, ehemals Vizepräsident des Massachusetts Institute of Technology,  in der Zeitschrift „Atlantic“ einen Essay mit dem Titel „As We May Think“. Bush sah es als Hauptherausforderung für Wissenschaftler und Ingenieure der Nachkriegszeit, den Umgang der Menschen mit Information zu verändern. Er beschrieb eine elektronische Traummaschine, die er „Memex" nannte - ein elektronischer Schreibtisch, in dem Massen von Information gespeichert und einfach zu finden sind.

Der Mann mit der Maus
Ein junger Techniker namens Douglas C. Engelbart las Bushs Essay. In den fünfziger Jahren arbeitete er an Windkanalexperimenten für jene Organisation, aus der später die NASA wurde, und ging dann nach Berkeley, um Informatik zu studieren. Danach heuerte er in einer Ideenfabrik namens Stanford Research Institute an. Die verwirklichten Ideen Doug Engelbarts haben die Art, wie wir leben, wie wir arbeiten und wie wir denken verändert. Engelbart war der Mann, der, beispielsweise, die erste Computermaus gebaut hat.

Ebenfalls in den frühen fünfziger Jahren wurde als ein Bestandteil des amerikanischen Luftaufklärungssystems das SAGE-Netz (Semi-Automatic Ground Environment) eingerichtet. Es kalkulierte die Flugbahnen feindlicher Flugzeuge und bestand aus mehreren Computern, die per Telefon miteinander verbunden waren. Mit SAGE begann das Zeitalter der Datenfernverarbeitung. 1957 schickte die UdSSR den „Sputnik" in eine Erdumlaufbahn, den ersten künstlichen Erdtrabanten. Vor Schreck gründeten die USA daraufhin eine neue Abteilung des Verteidigungsministeriums, die Advanced Research Projects Agency (ARPA). Sie sollte die amerikanische Führung in militärisch anwendbarer Wissenschaft und Technik wiederherstellen.

Wo wir sind

Der erste Fernsehsatellit „Telstar" war gerade gestartet, als Dr. J. C. R. Licklider 1962 die Firma Bolt Beranek and Newman (BBN) in Cambridge, Massachusetts, verließ, um Chef der ARPA zu werden und ein „internetworking project" ins Leben rief. Licklider gab seiner Gruppe von Computerspezialisten den Spitznamen „Intergalactic Network". Ihr Ziel war die Entwicklung eines Computernetzwerks ohne zentrale Verwaltung.

Sein Nachfolger Robert Taylor erzählte in einem Interview von Lickliders Interesse an vernetzten Gemeinschaften: „Lick gehörte zu den ersten, die den Gemeinschaftsgeist wahrgenommen haben, der unter den Usern der Großrechner aufgekommen war, an denen man sich damals erstmals Rechenzeit teilen konnte. Er brachte dieses Phänomen auf den Punkt – und auf einmal konnte man über die Verbindung von Gemeinschaften nachdenken. Über die Vernetzung von interaktiven Online-Gemeinschaften." Hier sind wir nun. Ich mußte blinzeln.

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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