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Peter Glaser: Zukunftsreich

Bremsgeräusche im Netz

„Ich mach dann heut mal Smartphonefasten", twittert ein Netzbekannter betrübt, „#liegtzuhause". Immerhin hat er es noch zuwege gebracht, diese Nachricht abzusetzen. Vielleicht von einem Laptop aus, nachdem er die rettende virtuelle Berghütte eines Hotspots erreicht hat. Vielleicht steht er aber auch am Rand der Verzweiflung vor einer dieser merkwürdigen Internet-Säulen, die einem manchmal in Flughafenhallen begegnen und die das vollkommene Gegenteil von Mobilität repräsentieren. Ich sehe einen Menschen vor mir, der noch unter widrigen Umständen versucht, dem vornehmsten Aufruf der Gegenwart zu folgen: Teile!

Share dich!
Teile dein Wissen, deine Lebensaugenblicke, deine Gedanken und Empfindungen mit allen anderen, die im Netz zappeln! Laß sie teilhaben an der Unbill, die es bedeutet, von der Smartphonekommunikationssauerstoffversorgung abgekoppelt zu sein und die Luft anhalten zu müssen. Laß sie die Zeitung lesen, die du gerade gelesen hast, und zwar in digitaler Form, also ohne das peinliche Gefühl, jemandem etwas zu schenken, das man eigentlich gerade in den Papierkorb werfen wollte. Sei ein braver Vertreter des Sharismus. Einer, der sich shared. „Gebt, so wird euch gegeben werden", heißt es in der Bibel bei Lukas, und: „Ein voll, gedrückt, gerüttelt und überfließend Maß wird man in euren Schoß geben."

Aber manche sind das gedrückte Maß bereits über. Während allerorts scheinbar unablässig weiter die Schleusen geöffnet werden - „open" ist zum gesellschaftlichen Generalthema geworden -, sind doch zunehmend an verschiedenen Stellen Bremsgeräusche im Netz zu vernehmen. Auch wenn ich einerseits meinen wehrlosen Netzbekanntenkreis mit täglich handverlesenen Katzenfotos peste, suche ich andererseits selbst Schutz vor solchen Anflutungen. So habe ich etwa einen Facebook-Filter eingerichtet, der mir ausschließlich Mitmenschen anzeigt, die ihr Essen NICHT fotografieren.

Die Beatles und die Anti-Mail
Andere gehen das Problem umfassender an. „Come together" heisst einer der Evergreens der Beatles, der Pop-Legende, die im englischen Liverpool ihren Anfang nahm. Die freundliche Aufforderung haben sich die Stadtväter schon vor ein paar Jahren als Programm zueigen gemacht. Der damalige Stadtratsvorsitzende von Liverpool, David Henshaw, ordnete an, dass seine Beamten keine internen E-Mails mehr verschicken dürfen. Sie sollten wieder miteinander telefonieren oder sich treffen, und zwar persönlich. Damit die Entzugssymptome sich in Grenzen hielten, war ein Mail-freier Tag pro Woche vorgesehen (der Mittwoch).

Externe E-Mails blieben von der neuen Vorschrift unberührt. Da inzwischen fast die gesamte interne Kommunikation online stattfand, sah die Verwaltung sich zu der Initiative veranlasst, zumal sich der Eindruck verdichtete, dass nur ein geringer Teil der Kommunikation professionellen Bedürfnissen entsprang. Wie in der wirklichen Welt, so wogt auch im Universum der Netzbenachrichtigungen ein Meer aus Witzen, Gerüchten und anderen Trödelverlockungen. „Wir wollen verhindern, dass die Leute von der Technik und dem bürokratischen Cyberspace zu sehr aufgesaugt werden", sagte Henshaw. „Ich denke, der Mailstop ist eine kleine Erinnerung daran, worum es geht, wenn von Kontakt zwischen Menschen die Rede ist."

Belohnung für Offliner
Eine andere bemerkenswerte Entdigitalisierungsaktion startete die William Woods University in Fulton im US-Bundesstaat Missouri. Sie bot Studenten einen Nachlaß der Studiengebühr in Höhe von 5000 Dollar – und zwar, wenn sie NICHT im Internet surfen, sondern sich an Vereinsarbeit oder Kulturveranstaltungen der Universität beteiligen.

Auch John Caudwell, Chef der britischen Ladenkette Phones 4U, hat seinen rund 2500 Angestellten untersagt, intern elektronisch zu kommunizieren und sie aufgefordert, stattdessen wieder miteinander zu reden. Der Unternehmer geht davon aus, dass durch die radikale Maßnahme jeder einzelne Mitarbeiter täglich drei Stunden mehr Zeit zur Verfügung hat und sich so umgerechnet etwa 1,4 Millionen Euro im Monat einsparen lassen. Thierry Breton, Chef des IT-Services-Anbieters Atos, hatte vor zwei Jahren ebenfalls angekündigt, E-Mail im Unternehmen bis Ende 2013 komplett abzuschaffen. „Zero E-Mail" hat hier nicht zu digitaler Diät geführt, sondern zu einem Wechsel der Mittel: statt zu mailen, tauschen sich die Mitarbeiter nun über ein firmeninternes Wiki aus.

Lego und der Trödelfaktor
Die angebliche Produktivitätsförderung durch digitale Kommunikation wird von zahlreichen Studien in Zweifel gezogen. Verschiedene Untersuchungen ergaben unabhängig voneinander, dass Kommunikationstechnologie Angestellte vom Kommunizieren eher abhält. Durch das Bombardement unablässig eintreffender Mails, Newsletters, Tweets und Facebook- oder Google-plus-Updates fühlen sie sich in ihrer Arbeitsmoral beeinträchtigt oder verzetteln sich mit dem Weiterleiten von Witzchen.

Der amerikanische Technologieberater Bruce Mehlman sieht das ganze Summen und Brummen positiv. Die vielen Kommunikations-Gadgets, die einen heute umschwirren, Smartphone, Laptop, Tablet, schaffen nach seinem Empfinden keine Kakophonie, sondern tragen zur Harmonie im Leben des Nutzers bei. Man sei zum Beispiel nicht mehr so ans Büro gekettet wie früher und könne mehr Zeit zu Hause verbringen. Sein fünfjähriger Sohn liebt es, mit dem Vater Luftkämpfe mit Lego-Flugzeugen zu führen. Für Mehlmann hat das Spiel auch eine nützliche Seite: Während er mit einer Hand sein Flugzeug führt, kann er mit der anderen telefonieren oder seine digitalen Kommunikationskanäle überfliegen. Gewöhnlich läßt er seinen Sohn gewinnen, aber manchmal entscheidet der Vater die Luftschlacht für sich. Der Junge braucht dann ein paar Minuten, um sein Flugzeug wieder zusammenzubauen. „Währenddessen kann ich meine Mails checken", erklärt Mehlmann.

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Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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