Peter Glaser: Zukunftsreich

Das Internet kennt keinen Abschied

Klassisch: Das Liebespaar am Bahnsteig oder am Flughafen, einer von beiden in die Ferne gerufen nach einem anderen Leben hin, großer Abschied. In Filmen lassen wir uns immer noch gern mitnehmen in die melancholische Tiefe eines Lebewohls. Aber das mit dem Abschied wird immer weniger. Zu sehen ist es auch an den Veränderungen, die das Internet mit sich gebracht hat. Noch vor ein paar Jahren nahm man erst sein Modem in Betrieb und loggte sich dann nach einer Surfrunde wieder aus. Wer heute seinen Rechner oder sein Smartphone einschaltet, ist online, sofort und ständig. Man verlässt die digitale Welt nicht mehr. Es gibt keinen Grund mehr, sich zu verabschieden.

Der digitale Medienfluss ist dabei, sich in eine Umweltbedingung zu verwandeln – etwas, das überall und immer da ist und uns an immer mehr Stellen verlockt, ihm unsere Zeit zu widmen. Früher gab es einen Zustand, dann kam eine Veränderung, dann ein neuer Zustand. Jetzt ist Veränderung der Zustand. Am Deutlichsten wird uns das in den sozialen Netzen vor Augen geführt, auf Facebook, Twitter & Co. Wer hier seinen elektronischen Freunden begegnet, grüßt nicht mehr, und man verabschiedet sich auch nicht mehr. Man tritt in den gemeinschaftlichen Neuigkeitenverlauf ein, der Stream oder Timeline heißt, nimmt ein bisschen teil und verschwindet dann wie Old Shatterhand wieder grußlos in die Prärie. Niemand nimmt einem das übel oder empfindet es als unhöflich. Es gibt einfach keine Verabschiedung mehr, denn alle sind nun immer da.

Hat man seine Freunde früher besucht oder angerufen, um sich auf dem Laufenden zu halten, hat man sie heute in der Jackentasche ständig mit dabei. Ein Blick auf das Display des Smartphones, schon ist man auf dem aktuellen Stand. Diese fortwährende Gegenwart, in der Entfernungen keine Rolle mehr zu spielen scheinen, hat einen Preis. Wir verabschieden uns aus unserer unmittelbaren Nähe, hinein in diesen leuchtenden, neuen Ort der Aufmerksamkeit. Jeder kennt das Phänomen, wenn man sich gerade in einer Runde zusammengesetzt hat und erst einmal alle die mitgeführten Geräte konsultieren.

Sperrstunde Fehlanzeige
Immer mehr Vorgänge, Dienste und Medien werden permanent. Online gibt es keinen Sendeschluss mehr, keinen Ladenschluss, keine Sperrstunde. Das erste Medium, das permanent wurde und 24 Stunden um die Uhr lief, war das Radio. In den Achtzigerjahren des zurückliegenden Jahrhunderts schlossen die Fernsehsender ihre letzten Nachtlücken. Etwas so Sonderbares wie „Sendeschluss“ kennen junge Mediennutzer nicht mehr. Ein Sonnenuntergang bedeutet nichts mehr. „Irgendwo auf der Welt“, sagt der Mann aus dem CNN-Newsroom, „geht immer gerade die Sonne unter“. Früher öffnete sich einmal pro Abend mit der Tagesschau das Nachrichtenfenster in die Welt, heute fließen immer unausgesetzter die Ströme an Meldungen, Unterhaltung, Information. Die Welt mag lückenlos sein, nun wird sie permanent. Wozu sich noch verabschieden?

Ziel der Entwicklung ist die Telezivilisation. Wir werden kein Fernweh mehr fühlen in diesem magischen Anschein von Nähe, der den Medienraum durchstrahlt. Nur manchmal noch werden wir Heimweh haben nach einem satten, kleinen Hier und Heute, das matt geworden sein wird unter diesem wunderbaren Gefühl, überall und immer dabei zu sein. Auch das Liebespaar – sie hier, er in Tokio, Sydney, Chicago – spürt so etwas wie ein Goodbye immer weniger. Stattdessen haben Designer am „Interactive Institute“ in Göteborg fernkuschelbare Kissen erfunden, die über das Internet miteinander verbunden sind. Wird eines der Kissen gedrückt, zeigt sich das - durch elektrolumineszenten Draht in der Textilhülle - in weich glühenden Mustern auf dem Kissen am anderen Ende der Leitung.

So schwindet der Abschied. Und dabei verdient er doch eines gewiss – eine ehrenvolle Version seiner selbst.

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Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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