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Peter Glaser: Zukunftsreich

Das WWWohnzimmer

Der Stadt Seattle gegenüber am Ostufer des Lake Washington liegt, an der 73rd Avenue NE in den Uferhang gebaut, das Anwesen von Bill und Melinda Gates. Hinter naturholzgefaßten Glasfronten erhalten Gäste in einer Empfangshalle einen ansteckbaren Sensor, der ihre Anwesenheit registriert. Am Empfang werden ihre Vorlieben wie Musik- und Kunstgeschmack erfaßt, das Haus versucht dann, ihnen entsprechend entgegenzukommen. Es merkt sich die Temperatur, die man beim Händewaschen bevorzugt und stellt sie, wenn man wieder einen Wasserhahn aufdreht, automatisch ein. Auf einem Wandbildschirm erscheint vielleicht ein Gemälde des persönlichen Lieblingsmalers. Das Haus steuert Licht, Heizung und Klimaanlage, die Musik und die überall - auch im Swimmingpool - verborgenen Lautsprecher, sowie die Überwachungskameras.

Das Wohnzimmer kommt im 21. Jahrhundert an

Was noch vor ein paar Jahren exotischer Luxus war, hat sich inzwischen zu einem beachtlichen Markt entwickelt. Als Google im Januar für 3,2 Milliarden Dollar Nest Labs kaufte, einen Hersteller von Thermostat- und Rauchmelder-Sensorik, ging ein Raunen durch die Reihen. Immer mehr Unternehmen präsentieren ihre Vorstellungen vom komfortablen, unterhaltsamen und sicheren Wohnen im digitalen Zeitalter, Schwergewichte wie Apple, Amazon oder Google ebenso wie wendige, spezialisierte Startups. Der Kampf um die technische Neuerfindung des Wohnzimmers ist voll entbrannt.

Auch der Durchschnittsbürger soll mit seinem Computer nicht mehr nur E-Mails schreiben und das Netz durchblättern, sondern steuernd und regelnd in seinen unmittelbaren Lebensbereich eingreifen können. Basis dafür ist eine Infrastruktur zu Heimautomatisierung, die Bewohner, Besucher und Dinge lokalisieren und Beleuchtung, Energieversorgung und Sicherheit managen kann, alles steuerbar über ein normales, Ethernet-basierendes Netzwerk oder drahtlos per WLAN und App. Neben Zustandsabfragen soll sich - auch von unterwegs aus - Steuerbares wie Licht, Türen, Fenster, Jalousien, Heizung oder Gartenbewässerung nach Bedarf einstellen oder auf Autopilot fliegen lassen.

Die Second Screens

Im modernen Wohnzimmer haben digitale Media Center („Home Theater PCs“), Streamingboxen wie Apples iTV und smarte Fernseher Einzug gehalten, die den TV-Genuss internettiger machen und die aus immer vielfältigeren Quellen einströmende Inhalte - Musik, Livestreams, YouTube-Clips, Fernsehprogramm, Webseiten, Fotos - fokussieren sollen. Bildschirme werden zugleich größer (oder mit Hilfe von Beamern entmaterialisiert) und kleiner als vom PC gewohnt.

Smartphones und Tablets haben der Revolution im Entspannungsbereich eine unerwartete Wendung gegeben: Immer öfter heißt Mediengenuss nicht mehr, nur einen Bildschirm zu konsultieren, sondern auch noch „Second Screens“, von denen Zusatzinformationen abgerufen oder Tweets abgesetzt werden. Fernsehsender beginnen darauf bereits in ihrer Programmgestaltung zu reagieren und Tablet-Nutzern bei TV-Übertragungen beispielsweise zusätzliche Kameraeinstellungen zu liefern.

Der transportable Lebensraum

Das Wohnzimmer ist nun nicht mehr nur ein festgelegter Raum mit bestimmten Funktionen. Stattdessen wird das Lebensgefühl, das diesen Bereich bisher auszeichnete, transportabel. Wir können das Wohlgefühl, das mit dem Begriff Wohnzimmer verbunden ist, mit der neuesten Technik überall hin mitnehmen, ins Nebenzimmer, ins Auto, oder unser Wohnzimmer per App jederzeit auch aus der Ferne betreten.

Was in den Neunzigerjahren im Internet große Portale wie Yahoo versuchten, erleben wir nun in einer Neuauflage mit der konkurrierenden Wohnzimmertechnik. Alle großen Hersteller möchten gern der zentrale Zugang für Netz und TV werden – seien es Spielkonsolen, Hybrid-Fernseher oder Technosphären wie die von Apple, die sich durch das nahtlose Ineinandergreifen von Hardware und Software auszeichnet, oder Amazons Fire TV, mit der auf Filme und Serien aus dem Amazon-eigenen Angebot zugegriffen werden kann. Die Nutzer, launisch und an Vielfalt interessiert, wie Menschen nun mal sind, scheinen sich die Wahl des Fensters, durch das sie in die Medienwelt blicken, aber noch offenlassen zu wollen.

Smart Home: Spaß am Regulieren

Zwar ist der Einstieg in die Heimautomation dank WLAN, App-Steuerung und Baukastensystemen mittlerweile ziemlich einfach geworden. Wirklich intelligent ist das smarte Wohnzimmer aber noch nicht. Ist der Rolladen vor der Balkontür über einen Dämmerungssensor gesteuert, besteht die Gefahr, vollautomatisch ausgesperrt zu werden. Wer Spaß am Kontrollieren, Regulieren und Automatisieren hat, für den sind funkgesteuerte Heizungsventile, flexible Lichtszenarios der Beleuchtungsquellen im Raum oder ein „virtueller Bewohner“, der durch zufälliges Ein- und Ausschalten Einbrecher abschrecken soll, aber die beste spielerische Einübung in die Zukunft.

Richtig interessant werden die modularen Systeme durch die Verknüpfung mit Webdiensten wie IFTTT („If-This-Then-That“). Man kann damit einfache Regeln nach dem Wenn-dies-dann-jenes-Prinzip festlegen, zu denen sich zahlreiche sogenannte „Channels“ einbinden lassen, unter anderem Facebook, Twitter, SMS oder Wetter-Websites. Damit lassen sich zum Beispiel Vorgänge abhängig von der Wetterprognose auslösen oder jeweils nach 10 erhaltenen Facebook-Likes Beethovens „Ode an die Freude“ anspielen. Andersherum läßt sich etwa ein Bewegungsmelder dazu veranlassen, Tweets oder E-Mails zu verschicken oder die vorbeilspazierende Katze aus einem Papierkügelchenkatapult mit Spielzeug zu versorgen.

Fernkuschelbare Sofakissen

Wie die nähere Zukunft des kommunizierenden Wohnzimmers aussehen könnte, haben Designer am „Interactive Institute Design” in Göteborg zu beantworten versucht und fernkuschelbare Sofakissen entwickelt. Lehnt man sich an eines dieser Kissen oder umarmt es, wird das Gedrücktwerden übers Internet in ein gleichartiges Kissen anderenorts übertragen und verwandelt sich dort - mit Hilfe von elektrolumineszentem Draht, der in die Textilhülle eingewebt ist - in ein glühendes Muster, an dem sich die Umarmung nachvollziehen läßt.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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