Eine Siedlung von neuen Einfamilienhäusern wird errichtet.
Eine Siedlung von neuen Einfamilienhäusern wird errichtet.
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Peter Glaser: Zukunftsreich

Der Neubau der Welt

„Wir blicken so gern in die Zukunft“, schrieb Goethe 1809 in den „Wahlverwandtschaften“, „weil wir das Ungefähre, was sich in ihr hin und her bewegt, durch stille Wünsche so gern zu unsern Gunsten heranleiten möchten.“ Ja, alle möchten gern wissen, wie das Kommende aussieht und wie man es beeinflussen kann. Zukunft ist das ganz große Kino – eine Leinwand, weit wie die Welt, auf die projiziert wird, was sein könnte. Was befürchtet, gewünscht, erhofft wird.

Auf besondere Weise scheinen die Deutschen gern nach der Zukunft zu greifen. Als der Regisseur Fritz Lang 1928 für den Start der Rakete in seinem Film „Frau im Mond“ den Countdown erfand - der seither auch jeden realen Raketenstart einleitet - ging es vorwärts durch Rückwärtszählen. Die Zeit damals war erfüllt von technischem Zukunftsdrängen, Geschwindigkeit nahm Stromlinienform an, Beschleunigung war Fortschritt. Radioaktivität galt als belebend, es gab radioaktive Konsumprodukte wie Schokolade oder Zahnpasta. Auch das ist Zukunft: eine Mischung aus Naivität und Verhängnis.

Kulturelle Energiezentren wie das Bauhaus in Weimar standen für die radikale Modernisierung des Lebens. Für einen Neubau der Welt, der allerdings nach 1945 anders als gedacht stattfand. Das Problem mit der Zukunft ist, dass die Welt unendlich komplex ist, der Mensch aber immer nur ein paar Szenarios durchspielen kann. Was dann tatsächlich passiert, ist meist das Unvorgestellte oder Unvorstellbare. „Ihr habt uns fliegende Autos versprochen“, schimpfte der Multimillionär und PayPal-Mitgründer Peter Thiel, „stattdessen haben wir Twitter bekommen.“

Als der Zweite Weltkrieg durch Europa raste, ließ er nebenbei auch eine Erfindung vorerst untergehen, die sich zur technologischen Leitströmung ins dritte Jahrtausend entwickeln sollte. 1937 hatte Konrad Zuse in Berlin den ersten programmierbaren Computer der Welt gebaut.

Als ihnen nach dem Krieg die Beschäftigung mit der Vergangenheit als Sühne auferlegt wurde, begannen Deutsche und Österreicher, in die Zukunft zu flüchten. In Ostdeutschland waren Utopien beliebt, in denen man Gesellschaftskritik verstecken konnte, im Westen bevorzugte man technik-affine Science Fiction. In Österreich wurde dann zwar 1958 der erste volltransistoriert arbeitende Computer Europas in Betrieb genommen, erhielt aber in der Tradition der Verharmlosung die Bezeichnung „Mailüfterl“ (auch eine Unterwerfungsgeste der Leistungsfähigkeit amerikanischer Röhrenrechner gegenüber, die Namen wie „Whirlwind“ trugen.)

An Perry Rhodan, dem Groschenheft-Beherrscher des Solaren Imperiums, läßt sich die Entwicklung dieser technisch gefärbten Zukunftsentwürfe verfolgen. Anfangs waren noch ehemalige Landserheftchenautoren am Werk, die Rhodan blond und blauäugig in die Unendlichkeit schickten. Mit den nachfolgenden Verfassergenerationen kam dann der jeweils aktuelle Zeitgeist zum Tragen, bis hin zu Öko-Planeten und auf einer DNS-Helix aufgefädelte Universen.

Die Zukunft kristallisierte in einer Zahl: Das Jahr 2000 wurde als Wendepunkt ausgemacht, ab dem der Mensch mit Schwebegleitern durch Kuppelstädte fahren und in Mondkolonien leben sollte. In der Nachkriegszeit hatte sich der Himmel aus einem religiösen in ein technisches Problem verwandelt, das mit einem Projekt von der Dimension des Pyramidenbaus gelöst wurde: der bemannten Raumfahrt. Als in der Verfilmung von Tom Wolfes Reportageroman über die ersten Astronauten („Der Stoff, aus dem die Helden sind“) jemand mit der Nachricht ins Präsidentenbüro platzt, ein sowjetischer Himmelskörper namens Sputnik würde nun die Erde umkreisen, schaut sich Präsident Eisenhower gerade einen von Geheimagenten gedrehten Film über deutsche Raketenspezialisten in der Sowjetunion an und wird von einem Berater beruhigt: „Aber unsere Deutschen sind besser als ihre Deutschen!“

Auch das Energieproblem war quasi bereits gelöst. Professor Heinz Haber, Pionier des Wissenschaftsjournalismus im Fernsehen, veröffentlichte zusammen mit Walt Disney 1958 das Buch „Unser Freund, das Atom“. Auf damaligen Architekturentwürfen haben die Häuser von morgen riesige Glaswände und sind dank Atomenergie mühelos zu beheizen. In einem Sammelalbum der Nudelfirma Birkel von 1962 über die „Welt von morgen“ wird erörtert, das antarktische Eis durch riesige Brennspiegel in der Erdumlaufbahn abzuschmelzen und eine Urlaubsregion entstehen zu lassen. Dass die Schnapsidee 50 Jahre später durch die Folgen des Klimawandels tatsächlich umsetzbar scheint, war allerdings nicht geplant.

Unsere Fähigkeit, fantastische Vorstellungen immer schneller in neue Erfindungen umzusetzen, stellt uns im Internetzeitalter vor die Frage, was passiert, wenn sich die Zukunft und die Gegenwart immer ähnlicher werden. Zur Schönheit von Zielen gehört es auch, Utopien zu haben – unerreichbar hohe Ziele. Es ist, wie wenn man auf See nach dem Polarstern navigiert. Er dient nur so lange der Orientierung, so lange er weit genug entfernt ist.

Als in den Fünfzigerjahren Terminals für Computer eingeführt wurden, wiesen die Alteingesessenen diese Zumutung von sich. Was sollte man schon von Leuten halten, die keine Ahnung davon haben, wie man Lochkarten stanzt? Diese Art von Hohn ist auch heute immer wieder einmal gelegentlich zu vernehmen, etwa als Angela Merkel auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit US-Präsident Obama „Das Internet ist für uns alle Neuland“ sagte. Es ist der Tonfall der Auskenner, der Avantgarde der Hightech-Spießer.

Meine Hoffnung für die Zukunft ist, dass die Welt und das Netz uns weiterhin reichlich Fehler ermöglichen. Denn in vielen Fällen sind Fehler, Irrtümer und Mängel Ausgangspunkte großartiger Entwicklungen. Wenn ein System keine Fehler mehr zuläßt, kann es sich nicht mehr entwickeln. Es ist paradox, dass Utopien meist in einem Endzustand vermeintlicher Vollkommenenheit angelangen, in dem es keine weitere Veränderung, kein Wachstun und kein organisches Geschehen mehr gibt und ein fantastisches soziales Gefüge zu einer virtuellen Versteinerung wird.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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