© Snitch

Peter Glaser: Zukunftsreich

Die Hau-Weg-Maschine

Es gibt Dinge, die Menschen auf kulturell bedeutsame Weise von sich werfen, darunter oft Abstoßbares wie Papierflieger und Seifenblasen oder Hartwurfmaterial wie etwa Geschützladungen. Bei sportlichen Wettbewerben stößt man Speere oder Eisenkugeln, die an einer Kette auf Touren gebracht werden und „Hämmer“ heißen, wirft Frisbees, Handbälle und Steine von sich, um sie über eine Wasserobefläche fitschen zu lassen, oder greift aus dem militärischen Instrumentarium zur Handgranate, bei der das Wegwerfen unumgänglich ist.

Inzwischen gibt es auch Hightech-Dinge, die man nicht einfach nur wegwerfen kann, sondern die man wegwerfen muss. Nennen möchte ich hier Snitch, „die fliegende Kamera für jedermann“, eine teekannengroße Plastikkugel mit eingebauter Kamera, die sich nach vorgenommenem Wegwurf mit zwei Propellern zehn Minuten lang in der Luft halten kann. Das Schmeißgerät ist die neueste Ausformung des Selfie-Wahns, der einen visuell wahrnehmbaren Teil der Menschheit erfasst hat und gelegentlich dazu führt, dass unvorsichtige Selfieversessene von der Klippe fallen oder sich erschießen, weil sie sich mit Pistole abbilden wollen und aber den falschen Auslöser betätigen.

Die Flugkugel soll solchen Fatalitäten den Garaus machen. Im Grunde handelt es sich bei der kleinen Eitelkeitsdrohne um die per App steuerbare Aero-Version einer Badezimmerlüftung plus Kamera. Wer zu dumm zum Fotografieren ist oder Angst hat, bei einem Pärchenurlaubsselfie vom Machu Picchu zu fallen, für den kann Snitch alles erledigen, so jedenfalls die Ankündigung: Das fliegende Auge erkennt Gesichter automatisch und zieht auf sie scharf („3! 2! 1! Cheeeese!" - voice announcement helps you to get ready“). An bei Touristen beliebten Plätzen wie etwa der Wiese vor dem schiefen Turm von Pisa, auf der Menschen aus aller Herren Länder so tun, als würden sie sich gegen das Bauwerk stemmen, könnte man noch zusätzlich so etwas wie Supershot-Marker anbringen, die in der Art von GPS-Ankern das vollautomatische Abfotografieren von Sehenswürdigkeiten nebst Special Effects erlauben.

In einer späteren Version soll Snitch einem auch folgen können. Derzeit ist der Fotoföhn darauf ausgelegt, möglichst ruhig in der Luft zu stehen, damit die Fotos nicht verwackeln und man das Gefühl auskosten kann, einen persönlichen Fotografen zu haben, der einem jederzeit und überallhin folgt. Man wirft ihn raus und er fängt an zu arbeiten. Moderne Zeiten! Aber die Idee ist nicht wirklich zu Ende gedacht. Eine Wegwerfkamera, auch wenn sie fliegen kann, tangiert das eigentliche Innovationspotential von Hightech-Wegzuwerfendem nur ganz leicht. Längst gibt es Mülltonnen mit RFID-Tags, die einen verpfeifen, wenn man nicht ordentlich recycelt. Aber auf die Idee, den Müll selbst intelligenter zu machen, ist offenbar noch niemand gekommen – Snitch, die Wegwerfknipse dürfen wir hier zumindest als Inspirationsquelle rühmen.

Mikrochips im Lebensmitteln

Die Mülldigitalisierung scheint insgesamt von schaumgebremstem Fortschritt befallen. Seit langem etwa warte ich vergebens auf virtuelles Müllsortieren, das heißt, nicht nur ein Mülleimerchen am Desktop, sondern viele – eins für Text, andere für Rastergrafik, Vektoren, MP3-Files, Quicktime-Dateien undsoweiter, alles sortenrein getrennt und viel einfacher wiederzuverwenden.

Der Industriedesigner Hannes Harms hat ein System namens NutriSmart entwickelt, bei dem sich die winzigen Chips direkt in Lebensmitteln befinden und der Schinken im Sandwich bereitwillig Auskunft über sein Herkommen und seine Kalorien gibt. Absehbar ist eine Zeit, in der Chips einfach Materialien und Werkstoffen als eine Art intelligentes Granulat zugesetzt werden und die Chance, dass ein Teil von ihnen auch nach Ablauf der Nutzungsdauer der jeweils aus dem Material gefertigten Produkte weiter funktioniert, ist ziemlich groß. Das heißt, wenn man künftig etwas wegwirft, ist das kein Abschied wie heute, sondern der Beginn einer neuen, interessanten Reise in die Welt des Mülls. Man stelle sich vor, was in Abfalldeponiel los sein wird – ganze Underground-Kulturen miteinander kommunizierender Fetzchen und aufgeweichter Reste sind denkbar, steuerbares Stückwerk, Choreografien aus gebrauchsfrei gewordener Materie. Ich sehe qualmende, endzeitige Plätze vor mir, diesmal mit Elektronikschrott, der nicht wie bisher einfach aufgegeben hat, sondern der sich weiterschleppt dank neugieriger, experimentierfreudiger, mitleidiger Menschen.

Und es muss nicht nur bei maschinentechnologisch vitalisiertem Müll bleiben. Auch die Gen- und Biotechniker sind am Zug: die perfekte Utopie wäre domestizierter Biomüll, der in der Lage wäre, sich selbst wegzuwerfen, nachdem er sich als benutzt erkannt hat. Eine Art Lemmings-Technologie also, und über den Strömen aus wegwerfwilligen, selbstmordsüchtigen Sachen sehe ich eine teekannengroße Plastikkugel mit eingebauter Kamera, fortgeworfen, um all den Wahnsinn festzuhalten.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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