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Peter Glaser: Zukunftsreich

Die Welt schreibt wie verrückt

Ich nahm den Rechner fortan bei Lesungen mit auf die Bühne. Ein Schriftsteller mit einem Computer – die Verbindung war für mich seit jeher ganz selbstverständlich, da ich als Kind Naturwissenschaftler werden wollte und erst, nachdem ich fassungslos hatte erkennen müssen, dass Mädchen sich nicht für organische Chemie interessieren, in die Kunst abgeglitten war, genauer gesagt in die Literatur.

Noch jedes neue Aufschreibesystem hat auch neue literarische Spielformen und Entwicklungen nach sich gezogen. Die Individualisierung des Bleisatzes in Form der Schreibmaschine hat die Textexperimente der Dadaisten ebenso inspiriert wie die konkrete Poesie. In der geometrischen Textmatrix, in der die Buchstaben sich mit Hilfe der Schreibmaschine tippen ließen, kündigte sich die Annäherung von Mathematik und Sprache an, die heute im Computer vollzogen ist.

Wenn ein Text Käse ist, helfen auch keine runden Ecken
Was das eigentliche Schreiben angeht, kann einem aber, wenn man nichts zu sagen hat, kein Computer helfen. Die Frage, ob das Geschriebene auf Papier gedruckt, über ein Blog oder auf einem iPad zu seinen Lesern findet, ist für den Autor nachrangig. Wenn ein Text Käse ist, helfen ihm weder brilliante Auflösung noch runde Ecken hinten hoch. Anders als etwa bei Autos geht es beim Schreiben nicht darum, womit man fährt. Da auch ich für die Lockungen der Computerindustrie empfänglich bin, schreibe ich immer wieder absichtlich auch mit Stift und Zettel, um mich zu vergewissern, dass es mir weiterhin um das Schreiben geht und nicht um das Equipment.

Begehbare Erzählungen und Twitter-Juwelen
„Kultur ist Reichtum an Problemen", schrieb der Wiener Kulturphilosoph Egon Friedell vor hundert Jahren. Und tatsächlich ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr so viel und vergnügt, zum Teil verzweifelt und um Geld ringend, mit Schrift und Sprache experimentiert worden wie in unserer zunehmend digitalen Kultur. Ob es sich bei dem Autor um einen Schriftsteller, eine Publizistin, einen Jouralisten oder eine Bloggerin handelt, nimmt sich dabei erst einmal nichts. Neben typographischen Experimenten, in denen sich die visuelle Poesie der sechziger Jahre wieder auf die Höhe der Zeit bringt, gibt es eine Fülle weiterer literarischer Ansätze, von den begehbaren, epischen Erzählungen der Computerspiele bis zu hyperkurzen Twitter-Juwelen. Das alles führt Traditionen fort. Schon von Hemingway gibt es eine berühmte Story aus den zwanziger Jahren, die nur sechs Worte lang ist: „For sale: baby shoes, never used".

Lieber sterben, als schreiben müssen
1940 schrieb Hemingway an seinen Verleger Charles Scribner, ihm gefalle am Krieg, dass es jede Nacht möglich sei, getötet zu werden, das heißt, am nächsten Tag eventuell nicht schreiben zu müssen. Daran hat sich auch durch Computer und das Netz nichts geändert. Und trotzdem schreiben alle wie verrückt. Es wird so viel geschrieben wie noch nie.

Beim American Football geht es etwas vereinfacht darum, dass jeder jeden bei allem behindert. Gleichermaßen könnte man über die Blogosphäre beziehungweise über das in irgendeiner Form beschreibbare Internet sagen, dass es dabei darum geht, dass jeder alles und jeden bei allem und jedem kommentiert und zutextet. Der Schriftsteller Michael Rutschky äußerte angesichts der durch die neuen Kommunikationsmittel ausgelösten Mitteilungsfluten den Verdacht: „Jeder will nur noch schreiben, keiner liest mehr."

Schreibfanatiker Fuller
Es soll übrigens niemand glauben, dass die Vielschreiberei ein Phänomen ist, das erst jetzt zum Vorschein kommt. Einer der exzessivsten Proto-Blogger war der Architekt Buckminster Fuller (der mit den Kuppeln), der sein Leben in einer unglaublichen Ausführlichkeit dokumentiert hat: Von 1915 an schrieb er 68 Jahre lang alle 15 Minuten einen Eintrag in ein Journal. Als Fuller am 1. Juli 1983 starb, hinterließ er 80 laufende Meter an Notizbüchern.

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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