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Peter Glaser: Zukunftsreich

Digitale Ellbogen

Niemand wartet gern. Warten ist die Zeit, in der wir fühlen, wie gleichermaßen banal und bedeutend das ist, was wir Freiheit nennen. Das reicht vom launigen Herumsitzen im Cafe über zweckbedingten Verweilzwang (Friseur, Behörden) bis hin zur Haft, einem Zustand, in dem sich sämtliche sozialen Funktionen im Schleifenlauf befinden; der zuständige Beruf heißt zutreffend Wärter. Die dem verordneten Warten angemessene Haltung ist die Geduld, ein Talent, das in unserer Gesellschaft nicht gerade üppig gedeiht.

Je nach Staatsform wird unterschiedlich gewartet. Schlangestehen gehörte ursprünglich zum Inbild des Kommunismus. Profi-Schlangesteher verkauften ihre Plätze im vorgerückten Teil der Schlange meistbietend. Inzwischen ist Schlangestehen eine kapitalistische Statusfrage. Bestes Beispiel hierfür sind die Schlangen vor den Apple Stores, wenn es wieder was Neues in Schachteln gibt.

Eine ganze Vordrängel-Industrie
Die Schlange zu besiegen ist eine Herausforderung von biblischen Dimensionen. Demgemäß hat sich das Vordrängeln zu einer hochmodernen Überlebenstechnik weiterentwickelt. Eine ganze Industrie, die Suchmaschinen-Optimierer, lebt beispielsweise davon, Einträge in den Trefferlisten bei Google möglichst weit nach vorn durchzudrängeln. Wenn das Drängeln, im übrigen ein nicht besonders beliebter sozialer Vorgang, ausser Kontrolle gerät, kann es ungemütlich werden. Als im Apple-Store in Peking die ersten Exemplare des iPhone-4 verkauft werden sollten und die wartenden Massen eine Stampede verursachten, wurde der Laden kurzerhand geschlossen, was zu weiteren Unruhen führte. Die am Drängeln Gehinderten begannen mit rohen Eiern zu werfen.

Auch wenn sie in bestimmten Dingen sehr schnell sind, haben Computer die Frage des Wartens und Drängelns nur scheinbar gelöst. Erinnerte ursprünglich noch vieles an reale Warteschlangen, etwa die Lochkartenstapel, die von der Maschine gemütlich abgenagt wurden, war mit der Einführung des Multitasking die Einstiegsdroge in die Illusion verfügbar, der Rechner könne mehrere Menschen gleichzeitig bedienen. In Wirklichkeit stehen die Bits nach wie vor im Chip Schlange.

Das Kommunikationsblaulicht
Dass Kommunikation, die durch Maschinen stattfindet, auf eine merkwürdige Weise privilegiert ist, ist nichts Neues ist. Wo sie technisch transportiert wird, scheint eine geheimnisvolle Zunahme an Wert stattzufinden. Das apparativ Mitgeteilte bekommt eine Art Blaulicht aufgesetzt. Wer in einer Schlange vor einem Schalter steht, kann sich jederzeit davon überzeugen, dass der Mann  dahinter, wenn es klingelt, sofort das Telefon abnehmen wird, wie lange auch immer die Schlange sein mag. Würde man sich vordrängeln und ihm eine Münze hinlegen, um sofort dranzukommen, man würde belächelt.

In San Francisco gibt es Restaurants, in denen man sich mit Hilfe seines Smartphones vordrängeln kann. Sie gehören der Fastfood-Kette The Melt, die auf Grillkäse spezialisiert ist. Man kann sein Sandwich auf althergebrachte Weise bestellen, indem man sich anstellt und dann einem Angestellten sagt, was man möchte – oder man übergeht die Schlange und ordert per Smartphone, woraufhin man einen QR-Code geschickt bekommt (eines dieser pixeligen quadratischen Muster, die sowas wie ein futuristischer Barcode sind), den man an ein Lesegerät in dem Restaurant hält. Und zack, geht die Bestellung auf den Grill und ist innerhalb von zwei Minuten fertig. Ein künftiges Feature namens „Geofencing” soll ermitteln, wann man sich in der Nähe einer Filiale befindet und einem eine Nachricht schicken, ob man vielleicht schon mal ein Käsesandwich auf den Grill legen solle, falls Appetit vorhanden sei. 5,95 Dollar für ein Sandwich ist zwar ziemlich teuer, aber dem Fortschritt sind Opfer zu bringen.

Kollektives Vordrängeln mit Computerhilfe
Mitarbeiter des amerikanischen Katastrophenschutzes EOC im Bundesstaat Colorado haben sogar eine Kollektivform des Vordrängelns entwickelt. Dem Regionalsender „9news” war eine E-Mail zugespielt worden, aus der hervorging, dass die Beamten behördeneigene Computerpower benutzen wollten, um sich bei einem Online-Ticketservice Karten für Spiele der heimischen Baseball-Favoriten, der Colorado Rockies, unter den Nagel zu reissen. Abteilungsleiter David Holm schrieb darin: „Ich brauche Leute, die mithelfen, aufs Knöpfchen zu drücken, um an die Tickets ranzukommen. Ich brauche Leute auch während der Pausen, während der Mittagspause und nach Arbeitsschluß! “ Der Plan war, so lange Tickets zu ordern, bis sie entweder ausverkauft oder die etwa 200 Mitarbeiter der Abteilung versorgt waren.

„Steuerzahler möchten ihr Geld nicht für ein Notfall-Einsatzrechenzentrum hergeben, mit dem dann Baseballtickets gekauft werden”, kritisierte Chantelle Taylor von der Bürgerrechtsorganisation „Colorado Ethics Watch” das Vorgehen. Nach Bekanntwerden der Pläne räumten die EOC-Leute ein, es sei keine gute Idee gewesen, das eigene Rechenzentrum für die Ticketattacke einzuspannen. Nun darf jeder Mitarbeite für sich selbst Karten besorgen – mit Hilfe der Behördenrechner. Das Management möchte nicht, dass die Mitarbeiter deswegen ihren Arbeitsplatz verlassen.

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Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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