Wissenschaft & Blödsinn

Einstein und Pythagoras

Wenn ich aus einem fahrenden Auto einen Stein direkt nach vorne werfe, dann erreicht er eine Geschwindigkeit, die ich ihm sonst niemals mitgeben könnte. Die Wurfgeschwindigkeit, die ich aufbringen kann, addiert sich zur Geschwindigkeit des Autos. Was passiert, wenn ich in einem Raumschiff unterwegs bin, und geradeaus nach vorne einen Laserblitz abfeuere?

Überraschenderweise gilt das Gesetz von der Addition der Geschwindigkeiten in diesem Fall nicht mehr. Die Lichtgeschwindigkeit ist immer gleich, jeder Beobachter misst denselben Wert – ungefähr 300.000 Kilometer pro Sekunde. Wenn ein Raumschiff mit halber Lichtgeschwindigkeit auf uns zurast, uns mit einem Laser-Torpedo beschießt und wir die Geschwindigkeit dieses Laserpulses messen, dann addiert sich nicht etwa die Lichtgeschwindigkeit des Laserstrahls zur Geschwindigkeit des Raumschiffs – der Laserpuls bewegt sich mit Lichtgeschwindigkeit, nicht weniger und nicht mehr.

Nach Albert Einstein liegt das daran, dass Raum und Zeit im Grunde zusammengehören. Gemeinsam bilden sie die vierdimensionale Raumzeit. Das ist nicht ganz einfach zu verstehen, aber einen kleinen Einblick in die Physik der Raumzeit kann man sich mit dem Satz des Pythagoras verschaffen, wenn man ihn für vierdimensionale Räume abwandelt.

Zunächst ist es nützlich, Raum und Zeit in derselben Maßeinheit anzugeben, indem man Längen und Zeitangaben über die Lichtgeschwindigkeit ineinander umrechnet. Das machen wir zum Beispiel, wenn wir von einem Lichtjahr sprechen – der Entfernung, die das Licht in einem Jahr zurücklegt. Mit Hilfe des Lichts machen wir aus dem Jahr, einem Maß für Zeit, das Lichtjahr, ein Maß für Länge.

Die Lichtgeschwindigkeit ist nichts anderes als ein Umrechnungsfaktor zwischen zwei verschiedenen Einheiten – so wie man zwischen Metern und Yards umrechnet oder zwischen Pfund und Kilogramm gibt es eben auch einen Konversionsfaktor zwischen Längen und Zeitenmaßeinheiten, weil beide im Grunde dasselbe ist.

Pythagoras: a²+b²=c²

Wenn wir auf einer Landkarte den Abstand zwischen zwei Punkten berechnen wollen, dann verwenden wir den Satz von Pythagoras. Wenn vier Meter nördlich und drei Meter östlich von mir eine Tafel Schokolade liegt, dann ist sie fünf Meter entfernt. Man kann nämlich ein rechtwinkeliges Dreieck einzeichnen und berechnen: Vier Meter zum Quadrat und drei Meter zum Quadrat ergeben nämlich fünf Meter zum Quadrat.

In der vierdimensionalen Raumzeit kann man ganz ähnliche Berechnungen anstellen, man muss im Vierdimensionalen nur zusätzlich ein Minuszeichen verwenden: Zeitabstand zum Quadrat minus Raumabstand zum Quadrat ergibt Raumzeitabstand zum Quadrat. Und über diesen Raumzeitabstand sind sich alle Beobachter einig – nicht über den räumlichen und nicht über den zeitlichen Abstand zwischen zwei Ereignissen, aber über den Raumzeitabstand.

Das klingt auf den ersten Blick verwirrend, ist aber ganz einfach: Den Abstand zwischen mir und der Schokolade können unterschiedliche Leute auf unterschiedliche Weise messen. Zuerst nach Norden und dann nach Osten zu messen ist nur eine Möglichkeit. Die Wände meines Wohnzimmers verlaufen nicht genau nach den Himmelsrichtungen, es ist vielleicht praktischer, zuerst entlang der einen Wand, dann im rechten Winkel dazu entlang der anderen Wand zu messen. Auch dann bekomme ich zwei Zahlen, aus denen ich mit dem Satz des Pythagoras den Abstand ausrechnen kann. Die beiden Zahlen werden sich von den nach Himmelsrichtungen gemessenen Zahlen unterscheiden – doch das Endergebnis, der Gesamtabstand zwischen mir und der Schokolade, wird gleich sein. (Natürlich kann ich auch einfach die direkte Linie zwischen mir und der Schokolade vermessen – dann bekomme ich fünf Meter heraus, und eine zweite Zahl benötige ich gar nicht mehr, aber das ist langweilig.)

Das Zwillings-Paradoxon

Ganz ähnlich verhält es sich in der Relativitätstheorie mit Beobachtern, die sich unterschiedlich schnell bewegen. Sie messen unterschiedliche Zeitabstände und unterschiedliche Raumabstände, doch über Gesamtentfernungen in der Raumzeit sind sie sich einig.

Das kann zu merkwürdigen Ergebnissen führen. Stellen wir uns eine Astronautin vor, die mit 80% der Lichtgeschwindigkeit von der Erde fortfliegt. Ihre Zwillingsschwester bleibt auf der Erde und beobachtet, wie sich das Raumschiff fünf Jahre lang entfernt. Es ist dann vier Lichtjahre weit entfernt und bleibt plötzlich stehen. Damit kann man ganz leicht den Raumzeit-Abstand zwischen Start und Stehenbleiben ausrechnen – mit dem Satz des Pythagoras, der ein Minuszeichen zwischen Raum und Zeit bekommen hat: Fünf Jahre zeitlicher Abstand zum Quadrat minus vier Lichtjahre räumlicher Abstand zum Quadrat – wir erhalten drei Jahre Raumzeit-Abstand.

Wie sieht die Situation für die andere Schwester aus? Sie verbringt die ganze Zeit im Raumschiff, von ihr aus betrachtet fanden also die Ereignisse „Start“ und „Stehenbleiben“ am selben Ort statt. Für den Raumzeit-Abstand muss sie nach der Relativitätstheorie aber dasselbe Ergebnis bekommen, nämlich drei Jahre. Für die Astronautin sind also bloß drei Jahre vergangen und nicht fünf, wie für die Schwester auf der Erde. Die Uhren im Raumschiff ticken langsamer, die Astronautin altert langsamer, die Zeit vergeht im Raumschiff langsamer. Im Raumschiff bemerkt man davon freilich nichts, alles fühlt sich an wie immer. Aber wenn die Astronautin umkehrt und mit derselben Geschwindigkeit wieder zur Erde zurückfliegt, dann ist sie am Ende vier Jahre jünger als ihre Zwillingsschwester, die auf der Erde geblieben ist. (Vorausgesetzt, die Astronautin würde die extremen Beschleunigungsphasen überleben, die für so eine Reise nötig wären.)

Nicht nur mit dem zeitlichen, auch mit dem räumlichen Abstand gibt es ein Problem: Die Astronauten-Schwester ist drei Jahre lang von der Erde weggeflogen, mit 80% der Lichtgeschwindigkeit. Aus ihrer Sicht kann sie also nicht fünf Lichtjahre weit entfernt gewesen sein, das ist in drei Jahren gar nicht möglich! Die Lösung heißt „Längenkontraktion“: Für die rasch bewegte Schwester hat sich der Raum verkürzt. In Bezugssystemen, die sich schnell bewegen, werden Abstände kleiner, von der Astronautin aus gesehen war der Weg weniger lang.

Wirklich verwirrend ist nun aber folgender Gedanke: Aus Sicht der Astronauten-Schwester hat sich die Erde wegbewegt, aus Sicht der Schwester auf der Erde war das Raumschiff in Bewegung. In bewegten Bezugssystemen ticken Uhren langsamer und Abstände verkürzen sich – doch das gilt für beide Schwestern. Jede ist während der Reise der Meinung, für die andere vergehe die Zeit langsamer. Warum ist dann am Ende aber trotzdem die Astronautenschwester jünger geblieben? Was unterscheidet die Reise im Raumschiff vom gemütlichen Herumsitzen auf irdischen Sofas?

Die Antwort ist: Beschleunigung. Solange sich Raumschiff und Erde mit gleichbleibender Geschwindigkeit voneinander fort bewegen, ist die Situation tatsächlich symmetrisch. Beide können mit gleichem Recht sagen, die andere Schwester entferne sich gerade und bei der anderen vergehe die Zeit langsamer. Doch wenn die Rakete umkehrt, dann muss sie zuerst kräftig abbremsen und dann wieder beschleunigen. Dabei treten enorme Kräfte auf, von denen die Schwester auf der Erde allerdings überhaupt nichts bemerkt. Genau in dieser Phase entsteht die Asymmetrie zwischen den beiden Schwestern, die dafür verantwortlich ist, dass die Astronautin am Ende jünger ist.

Wir können also tatsächlich sicher sein: Bewegung hält jung. Allerdings nur bei relativistisch hohen Geschwindigkeiten. Joggen lohnt sich nicht, ich habe nachgerechnet.

Die pädagogische Idee, relativistische Effekte über den Satz von Pythagoras zu erklären, ist von Edwin Taylor und John Archibald Wheeler geborgt. In ihrem Buch „Physik der Raumzeit“ präsentieren sie auf leicht verständliche Weise Ideen aus der speziellen Relativitätstheorie.

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen schreibt er jeden zweiten Dienstag in der futurezone.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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