Torte Retrowelle, diesmal süß. Nicht nur in den Social Media werben immer mehr Foodies mit ihren Großmutter-Torten. Auch sonst sehnt man sich zurück zu den cremig-nussig-fruchtigen Tortentürmen aus früheren Tagen. Sie bilden einen Kontrapunkt zu den immer weniger süßen Desserts der Spitzengastronomie, die nach wie vor ihre Gültigkeit haben.
Torte
Retrowelle, diesmal süß. Nicht nur in den Social Media werben immer mehr Foodies mit ihren Großmutter-Torten. Auch sonst sehnt man sich zurück zu den cremig-nussig-fruchtigen Tortentürmen aus früheren Tagen. Sie bilden einen Kontrapunkt zu den immer weniger süßen Desserts der Spitzengastronomie, die nach wie vor ihre Gültigkeit haben.
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Peter Glaser: Zukunftsreich

Geburtstagsbefehl von Facebook

Schanghaien” ist ein Begriff aus der Seefahrt, den man auch verwenden kann, wenn die Bedeutung eines Worts entführt wird. Im 19. Jahrhundert kam es nicht selten vor, dass Männer, die in London oder Hamburg in der Hafengegend ihrem Vergnügen nachgingen, sich anderntags als Matrosen zwangsverpflichtet an Bord eines Schiffs wiederfanden, das bereits in See gestochen war (und aus Schanghai kamen besonders viele Schiffe mit Zwangsarbeitern).

Nun im digitalen Zeitalter werden Worte schanghait. Zum Beispiel “interaktiv”. Ursprünglich bezeichneten Psychologen damit die Wechselbeziehung zwischen Menschen, dann entdeckten die Verkünder der digitalen Revolution den Begriff. Seither ist das Wort in fremden Diensten – denn es gibt eigentlich keine Interaktion mit Maschinen. Interaktion bedeutet, dass beide Seiten Erfahrungen miteinander machen und einander verändern. Man kann aber nicht interaktiv mit etwas sein, das sich selbst nicht überschreiten kann, einem Computer beispielsweise. Software kann auf vielfältige, aber immer festgelegte Art auf die Anforderungen von Nutzern reagieren. Man kann dazu multioptional oder Multiple Choice sagen, aber ein beiderseitiger Austausch ist das nicht. Trotzdem nennt man es inzwischen “interaktiv”. Der Begriff wurde schanghait.

(Nur am Rand angemerkt, werden von Anrufbeantwortern auch keine Anrufe beantwortet, weshalb sie Anrufentgegennehmer heißen sollten.)

Mit dem Fortschreiten der Digitalisierung und des Medienwandels erfahren viele Begriffe eine Neubestimmung. Der “ Rohling” etwa, vor wenigen Jahren noch ein Mensch minderer Sensibilität, ist nun ein unbespielter Datenträger. Auch aus George Orwells “Big Brother” ist etwas ganz anderes geworden. Mit der gleichnamigen Containershow hat sich das Ganze in eine Art von Sozialpornographie verwandelt: Die Leistung der Teilnehmer besteht schlicht darin, alles zu zeigen. Sonderbare Dinge wie "Sendeschluss" oder “Testbild” kennen junge Menschen, die im Internetzeitalter aufwachsen, überhaupt nicht mehr – oder höchstens aus einem der Testbild-Museen im Netz. (Eines der ersten und schönsten davon stammt übrigens aus ÖsterreichStay tuned vom “Verein zur Erhaltung vom Aussterben bedrohter elektromagnetischer Gattungen”).

 

Zwang zum Sozialen
Ein Begriff, der sich gerade besonders stark dreht, ist “sozial”. Jeder, der nicht die letzten Monate unter einem Stein gelegen hat, weiß, dass das mit dem raketenhaften Aufstieg der sogenannten Sozialen Netze zu tun hat. Sogenannt, weil “sozial” bis vor kurzem noch etwas anderes bedeutet hat, als uns nun von den Betreibern von Facebook und Twitter, LinkedIn, Xing, StudiVZ, Foursquare, undsoweiter unterschoben wird. Zuvor hieß sozial, auch das Wohl anderer zu berücksichtigen, nicht nur das eigene. Klar kann man im Netz auch Dinge tun, die in gewisser Weise sozial sind, etwa Fotos für seine Bekannten sichtbar zu machen oder Links auf Zeitungsartikel, Filmclips, Musik oder Blogpostings zu verteilen, die einem gefallen oder die man wichtig findet.

Aber was nicht nur mir sauer aufstößt, ist der Zwang, der nun von Unternehmen - allen voran Facebook - ausgeübt wird, um die Nutzer zu einer Art des datenförmigen Sozialseins zu drängen, das für die Betreiber profitabel ist. Es ist, wohlgemerkt, nichts dagegen einzuwenden, wenn eine Firma versucht, die Gehälter ihrer Mitarbeiter und das Geld für den Strom zu erwirtschaften, den die riesigen Datenkraftwerke verbrauchen, in die Millionen Menschen ihre Statuszeilen regnen lassen. Was man in der englischsprechenden Internetwirtschaft “Rollout” nennt - die Vorstellung neuer Features -, kann man bei Facebook aber mit “das obligate Überfahren der Nutzer” übersetzen, zuletzt praktiziert mit der Gesichtserkennung auf Fotos, die, wie üblich, ungefragt freigeschaltet wurde. Jede dieser kleinen, schrittweisen Aufhebungen der Privatsphäre soll die Produktivität der Millionen Bienen fördern, die ihre Datenhonigtröpfchen bei dem Mann mit dem passenden Namen Zuckerberg abliefern.

Der Zwang, datensozial zu sein, fängt bei Facebook mit der Eingabe des Geburtsdatums an. Da Facebook das garnichts angeht, habe ich bei meiner Inauguration den 1.1. Irgendwas angegeben. Mit dem Effekt, dass mir am nächsten 1.1. eine Menge Leute, mit denen ich inzwischen in Kontakt getreten war, freundlich und ernsthaft zum Geburtstag gratuliert haben. Da ich keine Lust hatte, jedesmal Rundschreiben zu verschicken, um niemanden vor den Kopf zu stoßen, bin ich eingeknickt und habe mein tatsächliches Geburtstdatum angegeben. Es geht Facebook zwar immer noch nichts an, aber ich bringe jetzt wenigstens niemanden mehr in Verlegenheit. Diesen dummen Trick, sozialen Druck auf mich auszuüben, nehme ich Zuckerberg übel.

Verschwundene Taschenwelt
Mancher wünscht sich inzwischen eine Zeit zurück, die für Ältere noch gar nicht richtig vergangen ist und in der man ein paar wichtige Daten seiner Freunde in einem Kalender notiert hatte. Digital gut vernetzten Menschen fällt auf, dass ihnen nur noch die Großeltern und die allerengsten Freunde persönlich zum Geburtstag gratulieren. Im Netz gibt`s automatische Geburtstagserinnerungen. Das ist praktisch, zugleich aber auch ärgerlich - einerseits für diejenigen, die gratuliert bekommen und wissen, dass der Gratulant sich nicht einmal die Mühe machen musste, den Geburtstag in einen Kalender einzutragen. Und auch, dass der Überbringer sich höchstwahrscheinlich nicht von sich aus erinnert hat, sondern dass ein Computerprogramm ihn dazu gebracht hat, zu gratulieren.

Was ich als wirklichen Verlust beklage, ist das Verschwinden der kleinen Taschenkalender – ich meine nicht diese Ringblatt-Renommierobjekte, sondern die billigen Dinger mit weichem Plastikumschlag, interessanter Weise meist in dunklen Farben, worin es, neben den Tabellen für internationale Maße, Gewichte und anderes Umrechnenswertes, als Luxus manchmal eine kleine Farbweltkarte gab. Die verschiedenen Nationen waren lange Zeit unterschwellig politisch gefärbt, und zwar im Sinne des Wortes:  die Länder Westeuropas und die USA meist in freundlichen Pastellfarben, während die Länder des damalige Ostblocks in Militärfarben dalagen - Schlammgrün, Umbra, Grau (woran wir sehen, dass Information auch gern im Stillen transportiert wird).

Am Beloit College in Wiscounsin ist man sich der Tatsache bewußt, dass mit solchen Kleinigkeiten immer auch ein Stück Verständnis für die Welt versinkt. Seit 1998 stellt man dort deshalb eine jährlich aktualisierte Liste mit Dingen zusammen, an denen sich die rapiden Wandlungen der Weltsicht der jeweils neuen Generation spiegeln – um den Professoren als auch den neuen Schülern zu vermitteln, dass etwa junge User kaum noch E-Mails schreiben (dauert zu lange), dass man früher mal Autoseitenscheiben “hinunterkurbeln” mußte oder dass Telefongespräche heute praktisch nicht mehr privat sind, weil niemand mehr in eine Zelle geht, um zu telefonieren.

Die kleine Tochter eines meiner Freunde fragte ihren Vater neulich: “Wie sind die Menschen eigentlich ins Internet gekommen, ehe es Computer gab?”

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger.

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