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Peter Glaser: Zukunftsreich

Geraubte Genitalien

Da sind sie wieder: Die Gerüchte. In einem Technikblog sind Fotos aufgetaucht, die angeblich einen Prototypen der nächsten iPhone-Generation zeigen („Viel erkennen kann man zwar nicht, aber aus den Details lassen sich doch einige Rückschlüsse ziehen"). Bereits Anfang Juni wollte eine chinesische Webseite erfahren haben, das Apple-Smartphone bekomme ein Superdisplay mit verdoppelter Pixelzahl. Und dann die angeblich geplante iWatch. Es summt und brummt vor Mußmaßungen über angebliche Features, und wann die Zeit für das Armbandaggregat gekommen sein soll.

Alle Organe am vorgesehenen Ort
Gerüchte können eine bemerkenswerte Macht entfalten. So verbreitete sich in den Neunzigerjahren in Nigeria das Gerücht, einfacher Körperkontakt mit einem Fremden genüge, um männliche Geschlechtsteile schrumpfen oder verschwinden zu lassen. Im Land brach eine Massenhysterie aus. Mindestens ein Dutzend vermeintlicher Genitalien-Diebe wurde gelyncht. Ein Polizeisprecher betonte, dass bei allen vorgeblich bestohlenen Männern „medizinisch nachgewiesen worden sei", dass sich alle Organe am vorgesehenen Ort befunden hätten.

Die Firma Apple ist bekannt dafür, das eigentlich Ungreifbare, nämlich Gerüchte, in kontrollierte Bahnen gelenkt und zu einem Marketinginstrument von weltweiter Wucht geformt zu haben. Wie aber kann ein Unternehmen, das so viel Wert auf Klarheit legt (zumindst, was Gestaltung betrifft) etwas so Ungenaues, Wolkiges und irrtional Ungefähres wie Gerüchte zu einem tragenden Teil seiner Öffentlichkeitsarbeit machen?

Bill Gates und Gott
Andere versuchen es mit dem, was man Vaporware („Heiße Luft") nennt - Produkte werden, um die Kunden bei der Stange zu halten, angekündigt und erst mit monate- oder jahrelanger Verspätung oder gar nicht ausgeliefert. In einem Witz aus dem Sommer 1995 teilt Gott dem damaligen Microsoft-Boss Bill Gates mit, dass die Welt in 30 Tagen untergehen wird. In der Firma verkündet Gates dazu: „Ich habe eine gute und eine sehr gute Nachricht. Die gute: Gott hat zu mir persönlich gesprochen, ich muß wirklich wichtig sein. Die sehr gute: Wir brauchen Windows 95 nicht auszuliefern!" Sogar die Tochter von Bill und Melinda Gates kam im April 1996 später als angekündigt auf die Welt.

Man kann Vaporware auch als eine Form von Konzeptkunst ansehen: Der Entwurf selbst ist bereits das Kunstwerk, weitere Verwirklichungsschritte sind also unnötig. Die Produktankündigung soll potentielle Kunden in einen Zustand versetzen, den Zoologen im Tierreich als sexuelle Duldungsstarre bezeichnen - lustgetöntes Ausharren. Auch wenn das digitale Zeitalter mit Hochgeschwindigkeitsverheißungen lockt, gehört Warten doch maßgeblich zum Anwenderleben.

Schwarzer Gürtel im Gerüchteverbreiten
Apple-Nutzer können sich diese Zeit, auch ganz ohne iTunes, mit Gerüchten zu angeblichen Novitäten vertreiben, die wie Wetterprognosen eine Vorstellung von künftigem Geschehen zu geben versuchen. Apple ist inzwischen sowas wie der Träger des Schwarzen Gürtels im Forcieren von Gerüchten. Gerüchte und Anekdoten geistern kostenlos durch die Werbewelt, weshalb viele Firmen, die viel teures Marketing betreiben müssen, das Unternehmen mit dem Apfel beneiden.

Der kanadische Management-Forscher Henry Mintzberg hat in einer Studie festgestellt, dass sich erfolgreiche Manager auch darin von weniger erfolgreichen unterscheiden, dass sie peripheren Informationen wie Körpersprache, Stimmungen und Gerüchten ebensoviel Beachtung schenken wie den harten Fakten. Apple-Fans sind auf diese Art von Wahrnehmung schon lange sensibilisiert. Es ist eine Schule des Sehens, die Apple seit Jahren entwickelt: Der Blick wird auf kleinste Details gelenkt, die zu Vermutungen Anlaß geben können. Das Ganze hat einen ähnlichen Unterhaltungswert wie Verschwörungstheorien und inspiriert auch zu konspirativem Denken, allerdings mit einem speziellen Dreh. Es ist eine Art Detektivspiel. Der alles nach Wahrscheinlichkeiten abtastende Blick paßt zum Bild des findigen Apple-Fans.

Vorauseilende Neugier
Gerüchte können ziemlich wilde Tiere sein, hohe Schadenersatzforderungen nach sich ziehen oder Marken beschädigen. Und: „Fama crescit eundo", wie bereits der römische Dichter Vergil wußte - das Gerücht wächst, während es wandert. Gerüchte sind vorauseilende Neugierde. Sie füllen vorhandene Informationslücken mit der eigenen Vorstellung aus. Und sie sind keinesfalls, wie manche meinen, Zeichen eines Mangels an lohnenden Themen. Es handelt sich um einen egalitären, sozusagen urdemokratischen Vorgang. Die 24 Stunden um die Uhr geöffnete Gerüchteküche ist die Demokratisierung des obskuren Analystentums. Jeder darf nun ein Experte sein und Prognosen wagen.

Rauchzart ist ein Ruf, flüchtig, filigran. Ein Haus aus Asche. Und, sucht man ihn zu fassen: schon verweht. Interessante Indiskretionen schimmern wie kosmische Staubnebel in unser kleines Alltagsgrau. Aber was sind schon öde Tatsachen gegen die tief in die Hosentaschen der Fantasie wühlenden Tentakel des Gerüchts?

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Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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