Cogito ergo sum
Cogito ergo sum
© triloks/istockphoto

Wissenschaft & Blödsinn

Glaube nicht alles was du denkst!

Es war die Zeit der freien Liebe, der fragwürdigen Frisuren und der Auflehnung gegen Autoritäten. In den USA protestierte man gegen den Vietnamkrieg. Die Wiener Aktionisten provozierten an der Universität, indem sie eine erstaunliche Vielfalt an Körperflüssigkeiten im Hörsaal verteilten. Und Jim Morrisons Schmachtstimme bekam plötzlich mehr Überzeugungskraft als die heilige katholische Kirche.

Es gibt es vieles, wofür wir der 68er-Generation dankbar sein sollten. Hätte es damals diese Phase der Rebellion gegen erstarrte Traditionen und Machtstrukturen nicht gegeben, würde unser Leben heute ganz anders aussehen. Es ist glücklicherweise ganz normal geworden, Autoritätspersonen zu hinterfragen. Was uns ein strenges Familienoberhaupt, ein ehrwürdiger Religionsvertreter oder ein übermächtiger Staatsführer als Wahrheit verkaufen möchte, wird längst nicht mehr automatisch geglaubt.

Einfach dagegen sein ist auch blöd

Doch wie jeder gesellschaftliche Wandel lässt sich auch der antiautoritäre Schlachtruf „glaube nicht alles, was man dir sagt!“ übertreiben, verbiegen und verzerren, bis von seiner ursprünglich sinnvollen Form nicht mehr viel übrigbleibt. Dass ich eine offizielle Lehrmeinung hinterfragen soll, heißt nämlich noch lange nicht, dass mein wackeliges Bauchgefühl, das ich dieser Lehrmeinung entgegensetze, notwendigerweise besser ist.

Genau in diese Falle tappen aber viele: Experten sagen, man soll Kinder impfen lassen. Aber was wissen die schon! Ich habe mehrere Minuten lang recherchiert und weiß jetzt, dass Impfungen bloß ein perfider Vorwand sind, um uns alle zu vergiften! Die Regierung behauptet, es gäbe freie Wahlen. Mir erscheint es aber irgendwie plausibler, dass unser Staat in Wirklichkeit eine Firma ist, die von dunklen Mächten ferngesteuert wird! Die Schulbuchphysik behauptet, dass man keine Energie aus dem Nichts erzeugen kann. Aber intuitiv bin ich der Meinung, dass dieses kosmische Quanten-Perpetuum-Mobile, das man im Internet bestellen kann, sicher eine gute Investition ist. Wollen Sie eine Einzugsermächtigung, oder soll ich das Geld in bar schicken?

Wenn man schon kleinen Kindern einredet, dass es keine falschen Antworten gibt, dass Faktenwissen egal ist, solange man seinen Namen hübsch tanzen kann, und dass sie Indigo-Kinder sind, die sich von niemandem etwas sagen lassen müssen, weil sie viel mehr Einhorn-Kraft haben als all ihre Lehrer zusammen, dann darf man sich nicht wundern, wenn dieselben Kinder später einen Aluhut aufsetzen, Hillary Clinton für ein Reptilien-Alien halten und sich auf den Weg ins Innere der Hohlerde machen, wo die Weisen von Aldebaran wohnen.

Vertraue niemandem blind – schon gar nicht dir selbst

Darum brauchen wir jetzt eine neue Bewegung des gesellschaftlichen Wandels. Die 68er-Generation hat das Vertrauen in Autoritäten gebrochen und erreicht, dass wir nicht mehr alles glauben, was man uns sagt. Nun müssen wir auch noch lernen, unser Vertrauen in die eigene Meinung zu brechen und damit erreichen, dass wir selbst nicht mehr alles glauben, was wir denken.

Kritisches Hinterfragen bedeutet nicht, sich einfach immer gegen die Meinung zu stellen, die einem präsentiert wird. Es bedeutet nicht, den konventionellen Medien zu misstrauen und dafür alles nachzuplappern, was irgendwelche obskuren Verschwörungs-Seiten von sich geben. Es bedeutet, sorgfältig nachzudenken und sich nach Abwägung der verfügbaren Fakten ein Urteil zu bilden. Dummerweise ist das mit Arbeit verbunden. Man braucht dafür Faktenwissen, Medienkompetenz und die Fähigkeit, glaubwürdige von unglaubwürdigen Quellen zu unterscheiden.

Aber vielleicht kann daraus ein gesellschaftlicher Trend werden. Vielleicht kann Faktenchecken, klares Argumentieren und kritisches Analysieren genauso hip werden wie das Aufbrechen verkrusteter Autoritätsstrukturen in den 60er und 70erjahren. Zumindest scheint sich heute so etwas wie eine Geek- und Nerd-Kultur zu entwickeln – das lässt hoffen. Die Vorreiter dieser Bewegung, wie sie damals revolutionäre Philosophen und langhaarige Rockmusiker waren, könnten heute vielleicht solide recherchierende Journalisten und visionäre Wissenschaftler sein. Aber wer weiß: Wenn auch dieser gesellschaftliche Wandel, den wir jetzt brauchen, mit spannender neuer Musik verbunden ist, so wie zur Zeit von Woodstock – dann umso besser! Ich bin gespannt.

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen schreibt er jeden zweiten Dienstag in der futurezone.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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