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Serie

Ich maile, also bin ich Sklave

Hätte man einen durchschnittlich intelligenten Menschen in den 80-er Jahren gefragt, ob er täglich nach dem Aufstehen verschlafen, ungeduscht und im Schlafanzug zum Briefkasten gehen möchte, hätte man verständnisloses Kopfschütteln geerntet und wäre für verrückt erklärt worden. Hätte ein Chef vorgeschlagen, dass ein Mitarbeiter ab 7 Uhr im Viertelstundentakt zum Briefkasten geht und jede Korrespondenz auch außerhalb der Geschäftszeiten sofort und freiwillig bearbeitet, wäre dieser Chef vor einem Arbeitsgericht gelandet. Heute ist dieser Kommunikationszustand ganz normal. Wir machen uns verrückt – E-Mail sei dank.

Vom Ego-Viagra zum Sklaventreiber
Wie konnte es so weit kommen? Gute Frage. Schwierig zu beantworten. Der Siegeszug der E-Mail begann für uns Konsumenten in den 90er-Jahren. Wer eine geschäftliche E-Mail-Adresse hatte, war wichtig. Je nach Arbeitgeber konnte man sogar damit angeben oder privaten Geschäften ein bisschen „nachhelfen“, wenn man z.B. bei einer Staatsgewalt arbeitete. Damals entstand die Selbstwert-Definition: Je mehr E-Mails ich erhalte, desto wichtiger, desto unabkömmlicher bin ich – ein fataler Trugschluss.

Selbstbetrug tut gut – zumindest anfangs
Aber: Er fühlte sich anfangs einfach verdammt gut an. So gut, dass man auch die private Kommunikationsschleuse öffnete und sich bei einem Gratis-Anbieter eine private E-Mailadresse orderte, bevor die coolsten Adressen vergeben waren. Und war das nicht ein kleines Weltwunder? Plötzlich konnte man fast in Echtzeit von Floridsdorf nach Feuerland kommunizieren. Man bekam trotz Zeitunterschied binnen weniger Stunden Antwort und musste nie wieder darauf warten, dass der Postmann erst nach Wochen zwei Mal läutete.

E-mailen wird Synonym für Projektmanagement
Und dann ging alles schneller als man auf „Senden/Empfangen“ klicken kann. Auf einmal hatten alle mindestens eine E-Mailadresse. Telefonieren wurde verpönt – „das stört nur“.  Meetings – „rauben nur Zeit“ – wurden durch E-Mails ersetzt. Mailen wurde das neue „Projektmanagement“. War das nicht demokratisch und sozial verträglicher als alles, was wir zuvor kannten? Schließlich konnte jeder mailen, wann er wollte – und: theoretisch konnte auch jeder antworten, wann er wollte.

Die Theorie? Ein Paradies. Die Praxis? Ein Albtraum.
In der Theorie ein paradiesischer Kommunikationszustand. In der Praxis: ein Albtraum. Warum? Weil wir Menschen unersättliche Wesen sind (Buchtipp: Geschichtsbücher oder die Bibel). Schnell ist deshalb niemals schnell genug. Aus „jeder kann antworten, wann er kann und will“ wurde „Antwort bitte binnen Nano-Sekunden, sonst rufe ich an und frage, ob meine E-Mail nicht angekommen ist“. Durch diese Erwartungshaltung entstand Druck. Mehr Kommunikationsdruck als je zuvor. War man selbst Chef, hat man Druck ausgeübt. War man Mitarbeiter, hat man ausgehalten und geantwortet – auch nach Büroschluss, am Wochenende und im Urlaub.

Smartphone? Sklavenphone!
Mit der Erfindung der Smartphones und ihrem Siegeszug als Firmenhandy wurde unsere Versklavung komplett. Seither tragen alle ihr Büro in der Hosentasche und empfinden ihr „Crackberry“ als Körperteil. Und dass das mit in der Urlaubssonne liegt, ist ja selbstverständlich. Plus: In harten Wirtschaftszeiten wie diesen, traut man sich nicht, unerreichbar zu sein. Nicht, dass „Müller“ Entscheidungen trifft und „Maier“ am Stuhl sägt. Deshalb ist man rund um die Uhr auf Empfang, antwortet im Halbschlaf auf die ersten E-Mails, lässt sich von E-Mails durch den Tag treiben und wundert sich, dass die eigentlich Arbeit auf der Strecke bleibt.

Ständig erreichbar sind nur Sklaven
Denn: Die wenigsten Menschen werden dafür bezahlt, dass Sie rund um die Uhr im Minuten-Takt kommunizieren, sondern dafür, dass sie eigene Prioritäten setzen und handeln. Abschalten ist lebenswichtig für die eigene Kreativität und Produktivität. Wer heute abschalten will, muss lernen auszuschalten: Handy, Computer, Mail-Programm, automatische Benachrichtigungen, akustische und visuelle Hinweis auf neue Nachrichten. Probieren Sie es aus, unerreichbar zu sein ist so wohltuend wie eine Ayurveda-Massage. Diese Erkenntnis motiviert zum rigorosen Umsetzen: Wahre Herren verfügen über ihre Zeit – ständig erreichbar sind nur Sklaven. Tipp: Vereinbaren Sie mit Ihren Kollegen und Teams fixe E-Mail-Öffnungszeiten. Dann weiß jeder, was von ihm erwartet wird und permanente Erreichbarkeit wird als Synonym für schlechtes Zeitmanagement entlarvt.

Blitztherapie-Regel: Offline in den Tag starten
Offline heißt: ohne Internet, ohne Handy und am besten ohne Computer! Klartext: Keine E-Mails im Bett checken, nicht auf dem Klo facebooken, Handy ignorieren!

Wenn Sie nur diese Regel beherzigen, gewinnen Sie viel. E-Mails wollen immer etwas von Ihnen, sie erledigen selten Ihre Arbeit. Wenn Sie den Tag mit E-Mails beginnen, starten Sie reagierend und werden in Folge wie die Sau durchs Arbeitsdorf getrieben.

Aber wieso? Sie agieren doch, wenn Sie E-Mails bearbeiten – das ist nicht falsch, aber auch nicht richtig. Ob Chef oder Kopier-Schorsch, Sie werden dafür bezahlt, dass Sie Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden und das Wichtigste zuerst erledigen. Das Wichtigste sind nicht die Anliegen von anderen, sondern Ihre eigenen.

Deshalb gehört die erste Stunde des Tages (oder die letzte Stunde des Vortages) Ihrer Planung und der Priorisierung Ihrer Aufgaben nach dem „Pareto-Prinzip“. Definieren Sie die 20 Prozent der Aufgaben, die Ihnen 80 Prozent Arbeitsergebnis bringen. Grausam, aber effizient: Die Taten, vor denen wir uns am liebsten drücken, sind in der Regel die potentesten 80-Prozent-Bringer. Deshalb: Internet aus und durch! Erst wenn Ihre Aufgabenliste steht, dürfen Sie online gehen.

Anlässlich ihrer Buchveröffentlichung „E-Mail macht dumm, krank und arm“ hat Autorin Anitra Eggler eine mehrteilige Serie zum Thema Digitale Kommunikation für die futurezone verfasst. Eine 77-seitige Leseprobe des Buches findet sich auf Slideshare.

Anitra Eggler (38) ist Autorin, FH Dozentin und Expertin für digitale Kommunikation, Marketing, Medien und PR. Sie war als Journalistin, Start-up-Managerin, Kreativdirektorin, Agentur-Chefin und zuletzt Online-Verlagsgeschäfts-führerin tätig.  Sie hat in Passau Kulturwirtschaft und Journalismus studiert und in München den ersten Internet-Boom an vorderster Front erlebt. Im Jahr 2010 wurde Anitra Eggler von Österreichs Frauenzeitschrift „Woman“ zur Nummer eins der Kategorie „Werbung und PR“ gekürt.

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