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Peter Glaser: Zukunftsreich

Kartenspiele - Wo bin ich hier?

Ich bin in Graz am Südrand der Alpen aufgewachsen, umgeben von einer unverkennbaren Kammlinie aus Bergen. Ganz selbstverständlich hatte ich so stets vor Augen, dass es Dinge gibt, die größer sind als ich und von keinem Menschen gemacht. Und ich wußte immer, in welche Richtung ich mich gerade bewege. Das änderte sich, als ich ins Flache nach Hamburg umzog und zugleich die ersten Tauchgänge in die digitale Welt unternahm. Draußen im Analogen war ich desorientiert und nahm die innere Bergkammlinie mit ins Netz. Die Orientierung zog sich zurück auf`s Lokale, ins Virtuelle und auf Menschen. Manchmal stellte sich ein Schwindelgefühl ein – wo bin ich?

"Seit einiger Zeit schon versuche ich, eine Karte zu finden, auf der die weltweiten Informationsflüsse verzeichnet sind“, schrieb der amerikanische Diplomat und Autor Harlan Cleveland 1988 verwundert. „Als ich kürzlich zwischen zwei Verabredungen in New York eine Stunde Zeit hatte, ging ich zu Rand-McNallys Kartengeschäft und fragte nach einer solchen Karte. Mein Wunsch sorgte für einige Aufregung. Praktisch jeder Verkäufer wurde herbeigerufen. Sie brachten alle möglichen Karten heran, die die Bewegungen von Nahrungsmitteln und Saatgut zeigten, von Öl, Kohle, Waffen und die irgendwelcher Firmen. Schließlich mußten sie zugeben, dass sie keine Karte über die Informationsflüsse hatten. Und sie konnten sich auch nicht vorstellen, dass irgendeiner ihrer Konkurrenten so etwas auf Lager hätte."

Kartendiebstahl wurde mit dem Tod bestraft
Heute wüsste Cleveland gar nicht mehr wohin vor lauter Infografiken und aufbereiteter Datenströme. Karten und kartenhafte Darstellungen haben, weil sie Übersicht über komplexe Gebiete geben können, und zwar reale wie virtuelle, wieder immens an Bedeutung gewonnen. Im 15. Jahrhundert war Portugal Zentrum einer neuen Kunst geworden, der Kartografie. Kartendiebstahl wurde damals mit dem Tod bestraft. Der Nürnberger Martin Behaim, der in Lissabonn lebte, brachte das Kartenwissen vom portugiesischen Hof mit und schuf den ersten Globus. Auf dem waren die Proportionen Asiens viel zu groß eingezeichnet, der Weg dorthin erschien ziemlich kurz. Ein gewisser Kolumbus richtete sich nach dieser falschen Information.

Friedrich der Große, der den Wert genauer Karten für die Kriegsführung sehr hoch einschätzte, hütete eine wertvolle Kartensammlung über seinen Wohnräumen im Potsdamer Stadtschloss. Eine knarrende Treppe diente ihm als Alarmeinrichtung. Der israelische Unabhängigkeitskrieg von 1948/49 wurde nicht zuletzt mit Hilfe einer alten Landkarte gewonnen, der Peutingerschen Tafel aus dem 4. Jahrhundert. Der israelische Kommandeur Yigal Yadin wusste, dass auf dieser Karte Teile einer Römerstraße von Jerusalem nach Eilat am Golf von Akaba eingezeichnet waren, die vom Wüstensand verschüttet war, aber von Panzern befahren werden konnte (Yadin war Archäologe). Er fand diese alte Straße wieder, kreiste die feindlichen Kräfte ein und öffnete danach einen Nachschubweg Richtung Rotes Meer. Das Weltraumzeitalter verbesserte die Informationsbeschaffung nur bedingt. Im Sechstagekrieg im Jahr 1967 kam der Film, der zeigte, dass sich ein Konflikt anbahnt, gerade aus dem Labor, als der Krieg zu Ende war.

Im November 2004 gab die National Geospatial-Intelligence Agency – eine Abteilung des US-Verteidigungsministeriums - bekannt, dass eine Reihe von Luftbildkarten, die öffentlich verfügbar gewesen waren, zum Teil aus Gründen der nationalen Sicherheit, zum Teil aus Copyrightgründen nicht mehr erhältlich seien. Die Ankündigung löste eine Welle des Protests aus. Für viele gehörte das detailreiche Kartenmaterial längst zur Grundaustattung. Biologen benützen es, um die Verbreitungsgebiete von Spezies zu kartieren, Ingenieure für Landschaftsplanungen, Umweltschützer zur Verzeichnung von Naturschäden.

Einen Monat davor, im Oktober 2004, hatte Google die Firma Keyhole übernommen. Das Unternehmen hatte sich auf die Aufbereitung von Satellitenfotos spezialisiert und unter dem Namen Google Earth wurden sie, zusammen mit dem Kartendienst Google Maps, in den nachfolgenden Monaten ins Netz gestellt – umsonst und für jedermann zugänglich. Eine für das US-Heimatschutzministerium angefertigte Studie der RAND Corporation kam zu dem Schluß, dass die Satellitenbilder keine brauchbaren Informationen für Terroristen bereithalten. Stürzt man sich in Google Earth aus dem virtuellen Orbit in die Tiefe, kann man sich wie eine der Film-Rückkehrkapseln fühlen, die zu analogen Zeiten aus Spionagesatelliten abgeworfen wurden.

Die Grenzen kehren ins Netz zurück
Begonnen hat das Internet als ein von der Geografie losgelöster Ort. Heute überziehen die alten Koordinatensysteme der Karten nach und nach wieder das Netz. Mit Hilfe von Geotargeting wird ermittelt, von wo aus ein Nutzer online geht. Wer den Bezahldienst Paypal von einem anderen als dem registrierten Ort aus benutzt, muss sich zusätzlich authentifizieren. Ortsbezogene Social Media-Spiele wie Foursquare funktionieren nur, wenn man sein Aufenthaltssignal freigibt. Totalitäre Staaten wie China schränken mit Hilfe der digitalen Peilung den Online-Zugang ihrer Bürger ein.

Die Feinverteilung der Informationsströme ist in vollem Gang. Immer handlichere Gadgets versorgen uns, und mit den Medien verändern sich unsere Zugänge zur Realität. Stellen Sie sich eine Weltkarte am Bildschirm vor, über die Erde verstreut farbige Punkte. Jeder blaue Punkt bedeutet: Da ist jemand mit einer Brille, in die eine winzige, drahtlose Kamera integriert ist und wenn Sie wollen, können Sie durch diese Brille mitsehen. Jemand irgendwo auf der Welt leiht Ihnen seine Augen. Das ist die Zukunft des Fernsehens. Sie können gefahrlos in der South Bronx spazierengehen, als Teletourist. Sie können weltweit an Ereignissen in einer nie gekannten Nähe teilnehmen. Und Sie können ihre Sicht der Dinge verkaufen, sagen wir: Nur zuschauen ist kostenlos, aber wenn Sie einen Guide möchten, der ihre Fragen beantwortet oder auf ihre Wünsche hört, während sie mit seinen Augen sehend durch South Central Los Angeles oder in Lager III am Mount Everest gehen, kostet es etwas.

Als ich das erste Mal in Kairo war, hatte ich einen Kompass dabei. Ich bin ein skeptischer Mensch und wollte nachprüfen, ob die Pyramidenseiten tatsächlich genau nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet sind. Nützlich war mir der Kompass dann, als beim Flanieren durch diese immense Stadt die Straßenschilder erst nur noch arabisch beschriftet und dann gar nicht mehr vorhanden waren. Da ich in etwa wußte, in welche Richtung ich mußte, lief ich gassentastend mit dem Kompass nach meinem Ziel hin. Hier war ich dann auch an einem Ort, an dem die Furcht vor der digitalen Welt und ihren Zumutungen überhaupt herkommt: Die höchste hieroglyphisch darstellbare Zahl, welche die alten Ägypter kannten, zeigt einen Mann, der zu Boden gesunken ist und die Hände über dem Kopf zusammenschlägt.

Anmerkung zum Kommentar von "capeofgreenhope":

Hallo capeofgreenhope,
auch wenn Ihr Vorwurf nur polemisch zu verstehen ist, gestatten Sie mir, etwas ausführlicher darauf einzugehen.
Sie werfen mir vor, die Einleitung zu dem Artikel, unter dem wir hier kommentieren „...wurde wortwörtlich von seinem Artikel "Die Welt ist eine Google" vom 13.4.2005 (Stuttgarter Zeitung) übernommen“.
Die Einleitung des Texts in der Stuttgarter Zeitung (STZ) - die ich Sie bitte, mit obigem Text zu vergleichen - lautet:
„In der Einführung seines berühmten Buchs über das Media Lab des Massachusetts Institute of Technology beschrieb der amerikanische Autor Stewart Brand 1987, wie er sich in den besten Kartenfachgeschäften nach einer Karte erkundigte, auf der die Informationsströme der Welt verzeichnet sind, und betriebsame Ratlosigkeit erntete. Noch die exotischsten Sachverhalte waren kartografiert, aber eine solche Karte gab es nicht. ...“
Ich kann darin nicht die Einleitung der Kolumne hier erkennen. Die eröffnet - und endet - mit aus meiner persönlichen Sicht beschriebenen Erfahrungen zu Orientierung und Kartierung in Graz und Kairo.
Der Text, den ich damals für die STZ geschrieben habe, nimmt inhaltlich Bezug auf eine Beobachtung, die hier im zweiten Absatz ausgeführt wird, nämlich dass es jemand 1987 erstaunlich fand, dass es keine Karten für die Informationsströme der Welt gibt. In der STZ habe ich das aus der Erinnerung wiedergegeben. Da ich diese Beobachtung für die Kolumne hier wieder aufnehmen wollte, habe ich nochmal recherchiert und festgestellt, dass ich mich damals nicht richtig erinnert habe: Zwar ist der Autor des Buchs tatsächlich Stewart Brand, über die Karten hat sich aber in dem Buch Harland Cleveland geäußert. Das finden Sie, zusammen mit dem Originalzitat (anders als in dem Text in der STZ) nunmehr hier im zweiten Absatz.
Das heißt, ich habe die Arbeit an einem Thema, mit dem ich mich bereits zu einer anderen Gelegenheit befaßt habe, fortgesetzt und unter anderem Fehler berichtigt. Wenn man sich wie ich seit etwa 30 Jahren mit einem Themenfeld und seinen vielfältigen Hintergründen beschäftigt, ergibt sich das öfter.
Ich nehme an, dass sie sich auf die Übereinstimmungen in dem Absatz über die Geschichte der Kartografie beziehen und muß Ihnen sagen, dass sich die historischen Fakten, um die es sich in dem Absatz ausschließlich handelt, seit 2005 nicht geändert haben. Historiker sind nach wie vor der Ansicht, dass Friedrich der Große eine Kartensammlung über seinem Schlafzimmer hatte, der Anekdote über den israelischen Unabhängigkeitskrieg hat in der Zwischenzeit niemand widersprochen und nach wie vor gilt als wahr und geschehen, dass Google 2004 die Firma Keyhole gekauft hat.
Ihre Vorwürfe beziehen sich nun nicht darauf, dass etwas in dem Text falsch oder unrichtig wäre, der Text schlecht geschrieben wäre und noch nicht einmal, dass ich eine der Ihren gegenteilige Auffassung vertreten würde, sondern darauf, dass sich Formulierungen über einige Fakten aus einer Kolumne, die ich 2005 für die Stuttgarter Zeitung geschrieben habe, in einem Text für die FutureZone wiederfinden, in dem ich das Thema wieder aufgenommen habe.
Mir geht es bei einem journalistischen oder feuilletonistischen Text - wir sprechen hier nicht über eine akademische Arbeit - darum, für einen Sachverhalt die jeweils beste und verständlichste Formulierung zu finden. Ich sehe nicht ein, warum ich eine Formulierung, die ich für gelungen halte und die ich im Augenblick nicht verbessern kann, nur deshalb verändern sollte, um einer rigiden Vorstellung von Originalität zu folgen. (Ich würde mich damit im Gegenteil der Methoden bedienen, die einigen Verfassern akademischer Arbeiten in letzter Zeit vorgeworfen werden - nämlich Texte umzuformulieren, um die Identifikation der Quelle zu erschweren).
Der Art, wie Ihre Vorhaltung formuliert ist, entnehme ich, dass Sie kein Autor sind, sondern Leser und nehme Ihre Kritik deshalb, wie Sie sehen, besonders ernst. Textsorten wie Doktorarbeiten, Essayistisches oder Kolumnen sollten Sie aber unterscheiden. Und wenn Sie einen Begriff wie Plagiat - derzeit sogar ein Kampfbegriff - verwenden, sollten Sie bedenken, dass damit per Definition der Zugriff auf fremdes geistiges Eigentum gemeint und „Eigenplagiat“ ein Widerspruch in sich ist.

Mit besten Grüßen
Peter Glaser

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