Peter Glaser: Zukunftsreich

Modernstes An- und Ausziehen

Neulich stachen mir beim Betrachten von Modefotos im Netz aus zuerst unerkanntem Grund die Reißverschlüsse der Klamotten ins Auge. Über einer Sessellehne neben mir lag eine Jeans, und dann kam die Sonne wieder durch und der Reißverschluss an der Hose leuchtete in seinem Metallglanz auf. Mir wurde klar, dass der Reißverschluss nicht einfach nur eine Schnittstelle zwischen dem Bekleidungsdrinnen und dem -draussen ist, sondern ein Inbild der Modernität.

Eine Mischung aus Fliessband und Knopf
Wie das Schweizer Taschenmesser, die Wasserleitung und das Internet gehört der Reißverschluss zu den Dingen, die schlechthin praktisch sind. Mühelos schafft er den Sprung in die virtuelle Welt. Denn er schließt nicht nur Kleider, sondern auch eine kulturelle Lücke, nämlich die zwischen Zunähen und Zuschnüren. Er ist eine Naht auf Widerruf. Schneiderei mit UNDO-Option. Der Reißverschluss war eine Erfindung des industriellen Zeitalters. Man kann ihn als eine Mischung aus Fließband und Knopf betrachten. Schon in der Bezeichnung „Zippverschluss" hört man den neuzeitlichen Wunsch nach Tempo anklingen. Ohne hinzusehen bekommt man durch die Nuancen des kleinen, reizenden Lärms, den das Zippen verursacht, ein Gefühl für den Gegenstand. Was in der Musik der Kammerton ist, auf den alle anderen Töne abgestimmt werden, ist beim Reißverschluss der feine, rasante Klang, mit dem eine Frau sich in ein schönes Kleid, sagen wir: einschließt.

Kristallisierte Neugierde
Spätestens wenn man die Deckleiste über einem Reißverschluss umschlägt, sieht man ihn glänzen. An einem Reißverschluss kristallisiert die Neugierde, und es sind diese reizvollen Kristalle, die man glänzen sieht. Bisweilen fordert der technische Fortschritt auch in der Anwendung des Reißverschlusses seinen Tribut. Ist ein funktionsfähiger Reißverschluss schon aufreizend (als eine Art kleiner Rolltreppe, die in intime Bereiche hinabführt), so ist es ein defekter Reißverschluss erst recht. Hier zeigt sich die unmittelbare Verwandtschaft zu einem hängengebliebenen Computer.

Wenn er klemmt, macht der Reißverschluss seinem Namen alle Ehre. Auf halber Strecke festgefahren, erzeugt ein Reißverschluss an einer Hose das äußerst unbefriedigende Gefühl, halb drin und halb draußen zu sein. Erst versucht man das Malheur gewöhnlich durch subtiles Ziehen und trickreiches Frickeln zu beheben. Ist man mit seiner Geduld am Ende, wird gerissen (am Rechner: wild auf die Tasten gehauen), was die Lage erfahrungsgemäß verschlimmert. Nach einigem Experimentieren gelingt es meist, die richtige Mischung aus Fingerspitzengefühl und Kraftsekunden ausfindig zu machen, mit der das Malheur sich beheben lässt. Reset.

Nahtstellen des modernen Menschen
In Herden tritt der Reißverschluss auf Fliegerjacken, Motorradfahrer-Klüften, Overalls und Post-Punk-Klamotten auf. Bei diesen Kleidungsstücken handelt es sich um eine Art Wohnung zum Anziehen, mit dem Reißverschluss als Türen zu den unterschiedlichen Taschen-Räumlichkeiten. Auf den verschiedenen Etagen des Trägers finden sich senkrechte, waagrechte und schräg aufgesetzte Reißverschlüsse, vom Schraubenziehertäschchen am Cargo-Hosenbein über Kaugummi- und iPod-fächer in den Ärmeln und halb aufgezippte, oft kugelschreiberbewehrte Brusttaschen bis zum RückenreißReißverschluss für die eingebaute Kapuze. In manchen Augenblicken fühlt man sich erinnert an den von Nahtstellen übersäten Leib des Frankenstein, Inbild des Menschen im technischen Zeitalter.

Ausziehen per Spracherkennung
In unseren Tagen ist der Reißverschluss in neue Dimensionen vorgedrungen. Mit dem Klettverschluss ist er in die Fläche gegangen. An der Ausrüstung von Astro-, Kosmo- und Taikonauten hat er sich im Weltraum bewährt. Die Zukunft? Wir leben im digitalen Zeitalter. Es gibt elektronische Fensterheber und drahtlose Fernbedienungen. Warum sollte es nicht schon bald einen Reißverschluss geben, der, auf die Stimme seines Inhabers oder der Inhaberin trainiert, wie man das von Diktiersoftware kennt, von alleine auf und ab fährt? Allerdings müssten wir dann auf jene oft gefühlsentscheidenden Filmszenen verzichten, in denen die Aufforderung kommt: "Machst du mir bitte den Reißverschluss zu?"

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Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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