© Wolfgang Weihs dpa

Peter Glaser: Zukunftsreich

Münchhausen und das Internet

Wer sich die kleinen Profilbilder ansieht, mit denen sich die Leute auf Facebook am Anfang ihrer Wortmeldungen ausweisen, der weiß, was gespielt wird. Viele verwenden verfremdete Bilder, manche leihen sich offenkundig fremde Gesichter oder geben sich, auch wenn das auf Facebook nicht gern gesehen wird, nur über ein Pseudonym zu erkennen. Online-Identitäten haben etwas Spielerisches. Etwas von einem Maskenball. Aber es ist nicht nur ein Experimentieren mit den neuen Möglichkeiten der digitalen Welt, sondern angesichts der aggressiven Datenbegehrlichkeiten von Unternehmen und Behörden auch eine Art von Selbstschutz, wenn Onliner ihre Identität manchmal lieber ein wenig im Ungewissen lassen.

Seit vor kurzem die vermeintliche lesbische Bloggerin Amina Araf aus Syrien als ein 40-jähriger in Schottland lebender Amerikaner enttarnt wurde, stellt sich aufs Neue die Frage nach der Glaubwürdigkeit digitaler Identitäten. Wer  sitzt einem da, repräsentiert durch ein paar stumme Zeilen oder Fotos am Bildschirm, eigentlich gegenüber? Während wir in der Realwelt über eine Palette von Möglichkeiten verfügen, um ein Gegenüber einschätzen zu können - von der Körpersprache über Handschrift und Stimme bis hin zur Reaktion auf Ironie, etc. -, verengt sich der Einblick, wenn wir jemandem online begegnen.

Plötzlich lassen sich Geheimnisse ganz leicht aussprechen
Das kann ein Anlaß für eine vorurteilsfreie Begegnung sein, bei der Dinge wie Aussehen, Hautfarbe oder Status keine Rolle spielen. Geschützt durch Anonymität oder Pseudonymität, breiten Menschen im Netz oft ihre persönlichsten Gedanken und Gefühle aus. Offenbar fällt es vielen leichter, Schwächen und Geheimnisse auszusprechen, wenn sie sich einem Computer anvertrauen können. Online-Kommunikation wirkt für viele Menschen wie eine Wahrheitsdroge. Aus sich herauszugehen ist im realen Leben mit Risiken verbunden. Im Netz bleibt die Gefahr, verletzt zu werden, erst einmal auf Distanz.

In Sozialen Netzen gibt es eine fließende und relativ enge Verbindung zwischen der Community im Internet und der Realwelt. In den neunziger Jahren war man besorgt, dass virtuelle Gemeinschaften entstehen könnten, in denen die Menschen beliebige neue Identitäten annehmen und Weltflucht begehen würden. Aber der Erfolg der sozialen Medien ist unter anderem auch damit erklärbar, dass es diese Verselbständigung nicht gibt. Gerade durch die Verflechtung zwischen Online-Welt und Offline-Welt kann man seine Identität im Netz gar nicht ohne weiteres manipulieren. Man kann also weiterhin das für Freundschaften nötige Vertrauen entwickeln – Zeit spielt dabei eine wichtige Rolle.

Durch die Verlagerung der Face-to-Face-Kommunikation ins Netz fällt das ganze nonverbale Verhalten weg. Alles läuft schriftlich oder über Bilder ab, und man kann besser als offline kontrollieren, wie man sich darstellt. Auf der anderen Seite sind es gerade nonverbale Signale - eine gewisse Verlegenheit oder Unklarheit -, die besonders zu Beginn einer sozialen Beziehung eine große Rolle spielen. Das macht das Kennenlernen zwar langwieriger, aber es hat auch etwas Reizvolles. Und herauszufinden, ob man jemandem vertrauen kann, ist weder für einen Journalisten, der Informationen sucht, immer ganz einfach, noch für jemanden, dem nach Freundschaft ist.

Neue Formen sozialen Versagens im Netz
Es wird einem im Netz so einfach wie noch nie gemacht, Kontakte zu knüpfen, wobei die sozialen Netze vor allem das Kennenlernen fördern, weniger die Kontinuität. Und die Beschränkungen der Netzkommunikation bieten nicht nur neue Möglichkeiten, etwa ein endlos dahinfließendes Gespräch ohne Hallo und Auf Wiedersehen (die sogenannte Timeline), bei dem man einfach antwortet, wenn man wieder Zeit hat. In Entsprechung zu Youngs Gesetz der Telekinese ("Alle unbeseelten Gegenstände können sich genau so weit bewegen, dass sie einem im Weg sind") finden sich auch Nervensägen stets gerade so weit im Internet zurecht, dass sie es schaffen, interessante Freundeskreise, Foren oder Blogs fast lahmzulegen. Was manchmal übersehen wird, ist, dass das Netz nicht nur zuvor unbekannte Potentiale des Austauschs und der Verständigung geschaffen hat, sondern auch neue Formen sozialen Versagens.

Die britische Journalistin Jenny Kleeman berichtet von Fällen, in denen Menschen schwere Krankheiten oder Traumata vortäuschen, um online von Unterstützern Sympathien abzusammeln – und dass derartige Phänomene in den letzten Jahren zunehmen. Es ist eine neue Art von Online-Betrug, bei der die Leute nicht um ihr Geld gebracht werden, sondern um ihre Zeit und um ihr Mitempfinden. Alles, was die Betrüger bekommen können, ist Aufmerksamkeit. Wobei der Aufbau einer solchen falschen Identität oft Monate dauert und eingehende Recherchen erfordert, um eine bis ins Detail glaubwürdige Geschichte präsentieren zu können; um das Lügengespinst möglichst überzeugend wirken zu lassen, gehört meist noch eine Gruppe fiktiver Freunde dazu. Marc Feldman, Professor für klinische Psychiatrie und Autor des Buchs „Playing Sick” hat für das Syndrom die Bezeichnung „ Münchhausen By Internet“ (MBI) eingeführt.

“Es war ein gutes Gefühl, die Zeit mit Menschen zu verbringen, die in erster Linie um mich besorgt waren”, sagt eine Ex-Identitätsfälscherin namens Jeanette. Nachdem sie einmal angefangen hatte zu lügen, konnte sie nicht mehr aufhören. Die Motivation erscheint auch Psychologen einleuchtend: Sympathie von Hunderten von Menschen im Netz zu bekommen fühlt sich einfach besser an, als wenn sie nur von einem Menschen im weißen Mantel kommt.

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne

Hat dir der Artikel gefallen? Jetzt teilen!

Kommentare