Wenn die Jungen wegziehen, bleiben die Alten über. Das Südburgenland kämpft mit Abwanderung
Wenn die Jungen wegziehen, bleiben die Alten über. Das Südburgenland kämpft mit Abwanderung
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Peter Glaser: Zukunftsreich

Senioren und Sensoren

Eines kann man für die Zukunft immer schon mit hundertprozentiger Gewißheit voraussagen: dass man dann älter sein wird. Und vielleicht ist man dann auch schon alt. Der Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung und die Alterung geburtenstarker Jahrgänge führen zu einem demografischen Wandel, dessen Drama sich langsam zu entfalten beginnt. Der Anteil an 50- bis 80-Jährigen in der österreichischen Bevölkerung wird von heute 2,9 Millionen auf 3,4 Millionen im Jahr 2030 ansteigen (wobei das Phänomen alle westlichen Kulturen betrifft). Und immer mehr Menschen brauchen Hilfe oder sind pflegebedürftig.

Um einer bereits heute vakanten Zeitnot und Überforderung des Pflegepersonals entgegenzuwirken, werden deshalb zunehmend sensor- und computergestützte Gesundheits- und Pflegesysteme entwickelt. Unter dem etwas glitschigen Kürzel AAL („Altersgerechte Assistenzsysteme für ein gesundes und unabhängiges Leben“) werden europaweit Projekte mit einem Subventionsvolumen im dreistelligen Millionenbereich gefördert – der Aufbau regionaler Netzwerke aus Anbietern von Gesamtsystemen, Unternehmen, Dienstleistern, Wohnungswirtschaft, Ärzten, Krankenkassen und nicht zuletzt die Nutzer selbst.

Ende letzten Jahres wurde auf dem internationalen AAL Forum 2014 das EU-Forschungsvorhaben CONFIDENCE, das von der Salzburg Research Forschungsgesellschaft koordiniert wird, als bestes europäisches AAL-Projekt ausgezeichnet. Ein internationales Forschungsteam arbeitet dort seit 2012 an einem Assistenzsystem, das an Demenz Erkrankten hilft, künftig länger mobil und aktiv zu bleiben. „Die Unterstützung des Systems beginnt zu Hause, indem zum Beispiel an die Einnahme von Medikamenten erinnert wird oder Bekleidungstipps bei unterschiedlichem Wetter und Informationen zum Weg für bevorstehende Termine gegeben werden“, erklärt die Salzburger Forscherin Cornelia Schneider.

Auch die wirtschaftsnahe Forschung hat den künftigen Milliardenmarkt im Visier. Im Fraunhofer inHaus-Zentrum in Duisburg - einer „Innovationswerkstatt marktnaher Forschung für intelligente Raum- und Gebäudesysteme“ - hat eine Gruppe unter Leitung von Gudrun Stockmanns inBath entwickelt, eine intelligente, assistierende Bad-Umgebung für Senioren und behinderte Menschen.

In dem elektronisch aufgerüsteten, barrierefreien Badezimmer weiß der Fußboden, wie schwer eine Person ist, die ihn betritt und stellt individuell die Höhe des Toilettensitzes ein. „Speziellen Nutzen soll das inBath für den Opa bringen, der nach einem Schlaganfall leicht desorientiert ist. Er vergißt öfter, sich zu rasieren und regelmäßig seine Medikamente zu nehmen. Nun hilft ihm der Spiegel über dem Waschbecken.“ Leuchtende Piktogramme zeigen an, was als nächstes zu tun ist: waschen, zähneputzen, rasieren, kämmen. Die Tage, an denen geduscht wird, sind gespeichert. Wenn der Bewohner seine Pillen nehmen muß, erinnert ihn eine Stimme aus einem Lautsprecher daran. Alternativ kann auch der Arzneimittelschrank aufleuchten und ihn ansprechen.

Schattenseiten der Automatisierung

Da sich Privathaushalte einen solchen Aufwand vorerst kaum werden leisten können, werden Pflegeeinrichtungen zu den ersten Abnehmern einer solchen Ausstattung gehören. „Sensorgestützte Assistenzsysteme bieten mehr Komfort und Sicherheit für Patienten, indem sie es ermöglichen, die Umgebung an spezielle Patienten-Bedürfnisse auszurichten“, verheißen die E-Bad-Pioniere – „Derartige Funktionen verschaffen dem Personal mehr Zeit, die es für die Pflege der Kranken aufwenden kann.“

Möglicherweise werden aber auch die gesellschaftlichen Schattenseiten der Automatisierung zutage treten. „Häufig wird ja argumentiert“, gibt etwa der Risikoforscher Ortwin Renn zu bedenken, „dass das Pflegepersonal mehr Zeit zum Vorlesen und Händchenhalten hätte, wenn andere notwendige Arbeiten von Robotern übernommen würden. Nur wird das in einer ökonomisierten Welt so nicht passieren. Da werden dann Pfleger entlassen.“

Sensoren an Türen, Toilette, Hähnen, Lichtschaltern und Duschvorhang zeichnen alle Aktivitäten elektronisch auf. „Das ist wichtig“, so die Fraunhofer-Forscher, „wenn Opa eines Tages professionelle Hilfe brauchen sollte. Ärzte und Pflegepersonal können am Computer ablesen, welche elektronischen Pflegefunktionen benutzt wurden, wie oft der ältere Mensch das Bad und die Toilette benutzt hat und ob er hingefallen ist.“ Notfalls gibt der Computer automatisch Alarm. „Beobachtung und Unterstützung der Bewohner, ohne sie zu stören“, ist die lautere Absicht.

Eine Art Bad Orwell

Die dezente Totalüberwachung wird jedoch ambivalent gesehen. Allein zuhause und dennoch rund um die Uhr umsorgt, sagen die einen. Für andere ist es eine Art Bad Orwell. In dem Projekt AAL@home etwa soll ein Assistenzsystem die Sicherheit und Unabhängigkeit älterer, allein lebender Menschen durch ein engmaschiges Versorgungsnetz aus Angehörigen, Pflegedienst, Hausarzt und Klinik gewährleisten. „Alle Beteiligten“, heißt es dazu, „haben ständig einen Einblick, wie es den alten Menschen gerade geht und ob Hilfe erforderlich ist.“

Moderne UWB-Sensoren überprüfen kontinuierlich den Gesundheitszustand der Senioren und können neben Vitaldaten wie Atem- oder Herzfrequenz auch die aktuelle Position in der Wohnung bestimmen – beispielsweise, um festzustellen, ob der alte Mensch wie gewohnt aufgestanden ist. Die Messgeräte werden in den Wänden installiert. Auch aus der Haustechnik werden Informationen über die Aktivitäten abgeleitet, etwa die Nutzung der Lichtschalter. Die Daten ergeben ein Abbild der Lebenssituation, das von einem verteilten, lernfähigen Assistenzsystem zu einem aktuellen Lagebericht zusammengefasst und interpretiert wird.

Das Geräusch eines fallenden Menschen

Eine hohe Akzeptanzbarriere für solche Assistenzsysteme ist die Sorge vor einem Eingriff in die Privatsphäre durch Gesundheits- und Verhaltensüberwachung oder ein Kontrollverlust durch komplexe, nicht nachvollziehbare technische Systeme. „Das stellt die Politik, die Wirtschaft und die Wissenschaft - die große Hoffnungen in AAL setzen - vor ein Dilemma“, wie Sören Theussig auf nullbarriere.de schreibt, einer Plattform für barrierefreie Architektur. „Die besten technischen Innovationen sind nicht viel wert, wenn sie von den potenziellen Nutzern nicht akzeptiert werden.“

Des Problems hat man sich auch bei dem japanischen Unternehmen Fujitsu angenommen und ein Soundsystem zum Rund-um-die-Uhr-Monitoring älterer Menschen entwickelt, das zwischen dem Geräusch eines fallenden Menschen und dem eines fallenden Objekts unterscheiden kann und auch schweres Atmen oder starken Husten erkennt. Der Angst vor Privatsphäreverletzungen begegnet man mit dem Hinweis darauf, dass das System keine Kameras verwende und nur gefilterte Akustikdaten zur Auswertung sende, denen keine Gespräche entnommen werden können. „Wenn morgens keine Geräusche erkannt werden“, schreibt die japanische Zeitung Asahi Shimbun lakonisch über den hilfsbereiten Lauscher, „kann das System daraus schließen, dass die Person nicht aufgewacht ist.“

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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