Thomas Mann, Kafka und ich
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Ich hatte ein paar Wochen lang nichts als gearbeitet, manchmal traumleer geschlafen und jetzt war die Arbeit getan, aber es ging immer noch voran, der Nachschwung schob mich vor sich her. Gewöhnlich bin ich nach einer solchen Tour besonders gern zu Hause, wo die Dinge darauf warten, dass ich sie wieder sehe. Sie sind ja nur noch da, wenn die Arbeit so richtig Ausmaße annimmt, eine blinde Wirklichkeit, und es gibt von ihnen nichts mehr zu erzählen, bis ich wieder einen zweiten Blick auf sie werfen kann.
Ich ging zum Bahnhof. Dort bin ich gern, wenn ich unschlüssig bin, wohin die Reise geht. Es war Nacht, und vor einigen Schaufenstern lagen Teppiche aus Licht auf dem Gehsteig. In dem Internetcafe unter den Bahnsteigen schienen alle auf etwas Unerklärliches zu warten, dem gesellte ich mich hinzu. Ich glaube, ich wollte an einen Ort, der noch nicht an eine Erinnerung verloren war und begann, japanische Websites durchzuklicken, ohne die Schriftzeichen zu verstehen. Dann suchte ich mich selbst im japanischen Teil des Internet, meinen Namen, es gab dafür keinen Grund, außer dass ich gedankenverloren und müde war.
Dann fand ich mich. Auf einer Seite, die mit rostbraunen japanischen Zeichen vollgeschrieben war, standen, jeweils in einigem Abstand voneinander, drei Namen in lateinischer Schrift: Thomas Mann, Franz Kafka und mein Name. Ich konnte das gar nicht fassen und schrieb gleich einem Freund davon, der seit langem in Tokio lebt. Gut drauf, die Japaner, dachte ich, dann ging ich wieder nach Hause.
Das Internet lädt ein
Zwei Wochen später kam Antwort aus Japan, ich sei eingeladen. Die Seite, auf der ich die Namen gefunden hatte, gehörte der germanistischen Fakultät der Universität in Nagoya, einer Stadt 350 Kilometer westlich von Tokio. Mein Freund in Tokio hatte dort nachgefragt und war mit einem Fachmann für österreichische Literatur ins Gespräch gekommen, der ihm nun die Einladung übermittelt hatte.
Ich hatte mich also in Japan im Internet gesucht, mich gefunden, und das Internet lud mich nun ein. Wir menschlichen Beteiligten waren nur noch Folgen dieses machtvollen, selbständigen Internet-Geschehens. Es war eine moderne Art, eine Reise zu beginnen. Später saß ich in einem ähnlich geistlosen Zustand wie damals am Bahnhof vor meinem Rechner und wußte nicht, was ich in Japan sollte. Ich druckte mir den japanisch beschrifteten Netzplan der U-Bahn in Tokio in Farbe aus. Dieser Plan ist erfüllt von abstrakter Schönheit. Ich erkannte, dass niemand sich jemals in dieser Struktur zurechtfinden würde.
Als nächstes bestellte ich online einen patentgefalteten Stadtplan von Tokio. Als er kam, dachte ich erst, dass der Hauptteil herausgefallen sei. Kein Straßenverzeichnis. Es gibt keine Straßennamen in Tokio. Mit mehr als 35 Millionen Menschen ist Tokio der größte metropole Ballungsraum der Welt. Offensichtlich sind da deshalb so viele Leute, weil sie alle nicht mehr rausfinden. Ich packte einen Kompaß ein.
Das Glück und das Erdbeben
Vom Flughafen Narita nach Shinjuku im Westen Tokios fährt man eineinhalb Stunden mit einem Expresszug, dessen Kennzeichen eine liegende rote Rakete ist. Der Schaffner betrat das Abteil und verbeugte sich zweimal nach den Passagieren hin, ehe er, die Hände in weißen Handschuhen und mit einer erhebenden Ernsthaftigkeit, die Tickets zu kontrollieren begann. Ich fühlte mich grob und roh, ein europäischer Waldmensch.
In der Nacht im Hotel hob mich etwas weich und mächtig aus dem Schlaf. Das Gefühl erinnerte an eine Bahnfahrt im Liegewagen, wenn der Zug in voller Fahrt in die Kurve geht. Es war ein Erdbeben. Zufriedenheit durchströmte mich. Hätte ich ohne ein Erdbeben aus Japan nach Haus fahren müssen, ich wäre enttäuscht gewesen. Von der nachschwingenden Ruhe ließ ich mich wieder in den Schlaf wiegen. Nach dem Aufwachen war ich nicht sicher, ob ich das Erdbeben nur geträumt hatte, aber dann sah ich den weißen Staub von dem Verputz an der Decke, der auf die schwarze Fernsehfernbedienung gerieselt war.
Das Sake-Etikett und der Semmering
Dann fuhr ich mit dem windschlüpfrigsten aller Züge nach Nagoya. Auf dem Weg zur Universität sah ich am Gehsteig in die Erde einer Baumscheibe gesteckt kleine Holztäfelchen, kaum größer als Streichholzbriefchen. Es war ein Friedhof für Kanarienvögel. In dem menschenleeren Foyer der Fakultät war ein Schild an einem Chromfuß befestigt, auf dem ich wieder meinen Namen fand, dahinter eine lange Reihe mit Regenschirmköchern für die Studenten. Elf Schirme waren eingestellt und ebenso viele Menschen empfingen mich mit großer Freundlichkeit in einem langen, nüchternen Raum in einem der oberen Stockwerke. Ich machte meinen Rechner auf und begann vorzulesen.
Danach lud man mich in eine japanische Gastwirtschaft, wo der Wirt Sake von einer solchen Güte servierte, dass mein Gastgeber, der Professor, der schon in Mürzzuschlag gewesen war und auf der Südsteirischen Weinstraße, darum bat, das Etikett der leergetrunkenen Flasche in warmem Wasser abgelöst zu bekommen, um es als Trophäe mit nach Haus nehmen zu können. Nach Haus, nach Mürzzuschlag, wo der Professor die Jelinek erforscht hatte, lief nun das Gespräch. Ich fragte ihn auf’s Geratewohl nach der Straße, in der mein Onkel, der Kapellmeister, und meine Tante in Mürzzuschlag wohnen, aber den Pretulweg kannte er nicht, und ob er vielleicht am Semmering gewesen sei, wo mein Ur-Urgroßvater Hausmeister in der Villa der Kaiserin Elisabeth gewesen war. Immer, wenn es geheißen hatte: Die Kaiserin kommt!, hatte er draußen im Park Kissen auf die Bänke gelegt, sagt unsere Familienfolklore.
Die Nachtigallen von Nagoya
So zu Hause wie hier in Nagoya hatte ich mich noch nie gefühlt. Auf dem Rückweg am Bahnhof, vor brutalistischen, zehngeschoßigen Hochhäusern, hörte ich plötzlich Nachtigallen singen, ohne irgendwo auch nur einen Strauch zu sehen, bis ich erkannte, dass an den Fußgängerüberwegen akustische Signalgeber für Blinde befestigt waren, die nicht schnarren wie in Europa, sondern schöne Vogelstimmen wiedergeben.
Ehe ich zurückflog, fuhr ich abends in einem Taxi unter neonübergossenen Fassaden durch Tokio. Nebenan glitten schmale Flüsse aus Licht über die Seitenscheiben der Autos und manchmal, wie aus einem kalbenden Gletscher, brach ein Stück Bedeutung aus der geometrischen Glut einer Häuserfront. Das war die Reise, zu der mich das Internet einmal nach Japan schickte.
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