Peter Glaser: Zukunftsreich

Zeitreisen im Weltgedächtnis

Um alles für uns tun zu können, möchte das Netz alles über uns wissen. Im März 2011 präsentierte der Kognitionsforscher Deb Roy eine atemberaubende Datensammlung, die er in den ersten zwei Lebensjahren seines Sohns angelegt hatte, um mit nie gekannter Genauigkeit nachvollziehen zu können, wie das Kind seine ersten Worte lernt. Überall im Haus der Familie waren Kameras angebracht, mit denen 90.000 Stunden Video und 140.000 Stunden Audiomaterial aufgezeichnet worden waren – 200 Terabyte an Daten. Bis zu seinem zweiten Geburtstag, das ergab die Auswertung, hatte der kleine Junge sieben Millionen Worte gehört und 530 eigene Worte gelernt.

Die Macht der Datenkraftwerke

Das Beispiel gibt eine Vorstellung davon, was „erinnern“ in einer gerade beginnenden Zukunft bedeuten könnte, in der immer größere Datenkomplexe in der planetaren Speicherwolke, der Cloud, Einzug halten und nun, während die Atomkraftwerke verschwinden, die Datenkraftwerke („Data Center“) kommen.

Manche wünschen es, viele fürchten es: das Internet als Weltgedächtnis. Das Zusammenfinden aller mit Fotos gefüllten Schuhkartons dieses Planeten in Bilddatenbanken wie Flickr, die Ozeane aus Filmschnipseln bei YouTube, die Momentaufnahmen des Web in seinen früheren Erscheinungsformen im Internet Archive, die sich in immer mehr Straßen nach allüberallhin verästelnden Fassadenfluchten von Googles Street View – und natürlich die nur einer Elite zugänglichen Informationsozeane von Nachrichtendiensten, Behörden und digitalen Wirtschaftsunternehmen – lassen immer umfassendere Datenmassen in einem Bereich zusammenströmen, dessen Funktion als Gedächtnis das englische Wort memory anschaulicher benennt als das deutsche Speicher, das nur eine statische Funktion betont.

Man wählt eine Jahreszahl und ist da

Was verheißt uns ein globales, in Echtzeit verfügbares Internet-Gedächtnis? Es bilden sich Strukturen heraus, die uns praktikable Formen des Zeitreisens ermöglichen. Man stelle sich einen digitalen Ort vor - einen Punkt in einem der großen Karten- oder Weltabbildungsdienste im Netz -, dazu einen Schieberegler, der die aus Science Fiction-Filmen bekannte Funktionsweise der Zeitmaschine abbildet. Man wählt eine Jahreszahl und ist da. Reisen in die Vergangenheit werden so auf eine ganz neue Art anschaulich, multimedial und dynamisch durchführbar. Aber auch die Zukunft ist in neuen, immer detailreicheren Formen von Simulation probeweise befahrbar – wenngleich der erste große Versuch, so etwas in den Mainstream zu führen, mit Second Life, dem kollektiven Bastelkasten für künstliche Welten, grandios gescheitert ist.

Jenseits der fliegenden Teppiche

Wir wissen, dass der Iran bereits als er noch Persien hieß, ein Land voller Wunder war. Herr Ali Razeghi, ein Wissenschaftler aus Teheran, hat beim staatlichen Zentrum für strategische Erfindungen eine „Aryayek-Zeitreisemaschine" zum Patent angemeldet. Wie die staatliche Nachrichtenagentur FARS meldete, kann die Vorrichtung die Zukunft vorhersagen. Razeghi, 27, erklärt, das Gerät arbeite mit einer Reihe komplexer Algorithmen, um „mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit einen zwischen fünf und acht Jahren umfassenden Zeitraum des zukünftigen Lebens eines Individuums“ vorherzusagen.

Alt-Zeitreisen aus der Ära der Automobilie

Der Serien-Erfinder, zugleich Geschäftsführer des Zentrums für strategische Erfindungen in Teheran, hält 179 weitere Patente. „An diesem Projekt“, so der junge Innovator, „habe ich die letzten 10 Jahre gearbeitet“. Die Erfindung paßt in ein PC-Gehäuse. Interessant ist noch: „Sie nimmt dich nicht mit in die Zukunft, sondern sie bringt die Zukunft zu dir."

Ja, all die hübsch dekorierten viktorianischen Zeitmaschinen, bis hin zum DeLorean aus „Zurück in die Zukunft“ sind, wenn man es recht überlegt, Fahrzeuge aus der Ära der Automobilie. Mit der stationären Zeitreise gibt Razeghi den Ideen der Umweltbewegung Raum, das heißt, die Umwelt bewegt sich, während der Zukunftssuchende regional bleibt.

Vorhersage militärischer Konfrontationen

Die iranische Regierung könne mithilfe des Geräts die Wahrscheinlichkeit militärischer Konfrontationen vorhersagen, weiters Wertfluktuationen bei Devisen und dem Ölpreis. Natürlich sei eine Regierung, die fünf Jahre in die Zukunft sehen könne, in der Lage, Herausforderungen frühzeitig zu erkennen, die zu einer Destabilisierung führen könnten. „Wir erwarten, dass sich diese Erfindung sowohl auf Regierungsebne als auch bei Einzelpersonen vermarkten läßt, sobald wir die Serienreife erreicht haben.“

Razeghi sagte, sein Projekt sei von Freunden und Verwandten kritisiert worden, weil er „versuche, Gott zu spielen". Er sehe das anders: "Dieses Projekt steht in keiner Weise gegen unsere religiösen Werte. Die Amerikaner versuchen, eine solche Erfindung mit Millionen von Dollar zu machen, ich aber habe es mit einem Bruchteil der Kosten erreicht." Der Grund, warum der Prototyp in der derzeitigen Phase nicht gestartet werde: „Die Chinesen würden die Idee stehlen und die Maschine Millionenfach über Nacht produzieren."

Im britischen „Telegraph" kommentiert ein Leser namens „inthemoment" den Bericht mit dem Hinweis „Ich erinnere mich, dass ich diesen Artikel schon letzte Woche gelesen habe." Darauf Leser „junjihyun": „Ich habe ihn kommenden Donnerstag gelesen."

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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