Norwegen

Im Netz: Das Tagebuch des Oslo-Terroristen

Der 32-jährige Norweger Anders B. hat laut der norwegischen Zeitung VG und dem staatlichen Fernsehsender NRK gestanden. Er ist für den Bombenanschlag in Oslo und die Hinrichtung von mindestens 85 jungen Menschen auf der Ferieninsel Utøya wohl allein verantwortlich. Kurz vor den Anschlägen stellte er ein 1516 Seiten langes Werk mit dem Titel „2083“ sowie ein Propagandavideo ins Internet, die Aufschluss über sein Motive und sein Vorgehen geben.

Das Netz als Propaganda-Plattform
Die norwegische Presse hat inzwischen die Authentizität des Manifests bestätigt. B. sieht sich demnach als „Ritter“, der Europa vor „Kulturmarxismus und Islamisierung“ retten wollte. Als Kulturmarxisten bezeichnet er Liberale und Sozialdemokraten. Eine Wordle-Grafik illustriert die inhaltlichen Schwerpunkte. In dem Dokument, das unter dem Pseudonym Andrew Berwick veröffentlicht wurde, protokollierte er rückblickend, aber mitunter auch in einem authentisch wirkenden Tagebuch-Stil unter der Überschrift „Knights Templar Log“ (dt. „Tempelritter Tagebuch“) die wohl über fast ein Jahrzehnt dauernden Vorbereitungen.

Der amerikanische Blogger Kevin Slaughter entdeckte das Dokument und veröffentlichte es inzwischen in einer Kurz- und Vollversion in Google Docs. Das anti-sozialistische, anti-muslimische Propagandavideo bettete er in seinem Blog ein, das bis dato nur 300 Abrufe gezählt hatte. Darin feiert B. ein christliches Märtyrertum mit zahlreichen historischen Querverweisen. Youtube entfernte es von seiner Plattform, doch inzwischen tauchten Kopien auf anderen Websites auf. Bei dem Dokument handelt es ist nicht nur um eine Art Manifest, sondern auch um ein Handbuch, da es sowohl seine Motivation, wie auch seine Vorgehensweise akribisch erläutert.

Hans Rustad, Herausgeber des rechtspopulistischen Online-Magazins Document.no, stellte fest, dass B. für sein Werk das Unabomber-Manifest teilweise Wort für Wort kopiert hat, auch sei der Begriff der „Kulturmarxisten“ von B. nahezu beliebig verwendet worden.

Die europäischen Tempelritter
In einer norwegischen Freimaurer-Loge, der er einige Jahre angehörte, fand er keine Gleichgesinnten. Der rechtspopulistischen Fortschrittspartei Norwegens, der B. zwischen 1999 und 2006 angehörte, kehrte er laut dem Dokument den Rücken zu, da er seinen „Glauben an einen demokratischen Kampf, Europa vor der Islamifizierung zu retten“ verloren habe. Selbst in Folge einer Regierungsbeteiligung könne das Parteiprogramm gar nicht konservativ genug zu sein, um den „islamischen demografischen Krieg“ aufzuhalten oder die „ethnische norwegische Geburtenrate“ zu steigern.

Mit 23 Jahren wurde der Rechtspopulist von in dem Dokument nicht weiter benannten Personen für eine Kerntruppe von wohl neun Personen angeworben. Diese formierten sich 2002 während eines Treffens in London als europäische „Tempelritter“. Als Initiatoren nennt B. einen serbischen Militärangehörigen und einen „Kriegshelden“ aus Liberia. Ihr Ziel: Die Gründung einer führenden „konservativ revolutionären Bewegung in Westeuropa“, die mit einem „europäischen Nationalismus“ in Form eines „Kreuzritternationalismus“ ein Gegengewicht zu den Neo-Nationalsozialisten darstellen soll. Das Endziel: „Die politische und militärische Kontrolle über westeuropäische Staaten und die Implementierung einer konservativen politischen Agenda.“ Der zweite Weltkrieg werde gegenüber dem, was kommen werde, so droht B., wie ein Picknick aussehen.

Im weiteren Verlauf des Protokolls erwähnt B. keine weitere direkte Unterstützung durch diese Gruppe. Zwar nennt er einen Mentor namens Richard Löwenherz, auch betont er, dass die Organisationsform nicht-hierarchisch sei. Er sei für eine Aktion ausgewählt worden, für deren Finanzierung er selbst aufkommen musste. B. habe daher ein Unternehmen gegründet, mit dem er binnen weniger Jahre rund 1 Mio. Euro verdient haben will. Zu wenig, denn angestrebt für „Plan A“ waren 3 Millionen.

Plan A: Aufbau eines Terrornetzwerks
Plan A bestand darin, eine „paneuropäische Organisationsplattform“ zu errichten. Über die Terrororganisation Al Kaida, deren Name ebenfalls mit „Plattform“ übersetzt werden kann, äußert er sich in dem Dokument im Übrigen anerkennend: Diese sei dank ihrer „überlegenen strukturellen Adaption“ eine von nur zwei „erfolgreichen militanten Organisationen“.

Vermutlich handelte es sich beim Plan A um den Aufbau eines Terrornetzwerks – an anderer Stelle erwähnt er bewundernd eine Fernsehserie über den Terroristen Carlos und den Film über die Baader-Meinhof-Bande. Letztlich scheiterten aber diverse Spekulationen an der Börse, um das Startkapital für die „Plattform“ entsprechend zu vergrößern.

Plan B: Terroranschläge und Propaganda
Mit verbliebenen 250.000 Euro machte B. mit „Plan B“ weiter: Der Bestrafung von „Verrätern“ diverser Kategorien. Und der Vorbereitung der passenden Propaganda, seinem Buch „2083“ und dem Video. Für das Buch soll er drei Jahre gebraucht habe, für das Video knapp zwei Wochen.

Zu Verrätern zählte er neben sozialdemokratischen und liberalen Politikern auch ausdrücklich Mitarbeiter der norwegischen Einwanderungsbehörde. Seine Stiefmutter arbeitete dort – doch diese Behörde sei, so schreibt er, „ironischerweise ein sehr hoch bewertetes Ziel für die Tempelritter in Norwegen, da sie ein wichtiges Werkzeug für das norwegische multikulturalistische Regime ist“.

Facebook als Vernetzungsplattform
Plan B verlief in mehreren Phasen: Ein wesentlicher Teil bestand in der Erarbeitung eines „Kompendiums“ namens „Eine Europäische Unabhängigkeitserklärung“ bzw. „2083“. Um dieses effektiv zu verbreiten, recherchierte über mehrere Monate über zwei Profile in Facebook nach E-Mail-Adressen europäischer Konservativer, Rechtsradikaler und Neonazis.

Über 5700 Facebook-„Freunde“ und in Folge 8.000 „qualifizierte“ E-Mail-Adressen konnte B. gewinnen. In seiner Auswahl sah er die „hingebungsvollsten Nationalisten in den westeuropäischen Ländern“, einschließlich den USA, Australien, Kanada, Südafrika, Armenien, Israel, Indien sowie „einigen osteuropäischen Staaten“. An diese E-Mail-Adressen wollte er sein Werk „2083“ nach Beendigung verschicken. Blogger haben inzwischen ein gelöschtes Facebook-Profil archiviert. Als Lieblingslektüre führte er unter anderem „1984" von George Orwell und „Leviathan“ auf.

In seinem Tagebuch erwähnt B., dass er sein Facebook-Profil nach erfolgter E-Mail-Gewinnung inhaltlich entschärft habe. Ihm war aufgefallen, dass sich unter den von ihm kontaktierten Profilen etliche Fake-Accounts befanden. Seine Sorge war, dass er von diversen Geheimdiensten vielleicht bereits beobachtet wurde.

B. diskutierte aber nicht nur auf Facebook, sondern unter anderem auch auf der rechtspopulistischen Website Document.no, die inzwischen seine gesammelten Kommentare veröffentlicht hat.

Training über das Netz
Das Internet bot B. nicht nur ideologisches Hintergrundmaterial, sondern war auch operativ hilfreich: Über Google Earth suchte er einen entlegenen Ort in den norwegischen Wäldern aus, um seine Ausrüstung und Waffen zu deponieren. Der Versuch, illegale Waffen in Prag über Drogenhändler zu erwerben, schlug übrigens fehl. Eine BBC-Dokumentation, die Prag als kriminellste Stadt Europas brandmarkte, hatte wohl übertrieben. B. konnte dort keine willigen Dealer finden. Stattdessen erwarb er die Waffen nach und nach legal in Norwegen.

Immer wieder nutzte er das Internet für seine Käufe – und achtete stets darauf, jedes Mal eine passende Legende vorweisen zu können. Dafür gründete er auf dem Papier nicht nur einen Bauernhof, sondern er entwarf auch Prospekte für ein Bergbauunternehmen. Die Chemikalien besorgte er über eBay und norwegische Online-Shops. Zu Fuß klapperte er Apotheken ab, um Aspirin in den benötigten Mengen zu besorgen. Per E-Mail bestellte er bei polnischen und chinesischen Unternehmen. Google wiederum benutzte er, um Dichte und Volumen für seine Bombenpräparate zu berechnen, bei Ikea und einem chinesischen Händler besorgte er sich die notwendigen Behälter. In jedem Fall notierte er, ob und wem gegenüber er seine Legende benutzt hatte, und auch ob ihn Verkäufer wieder erkannt hatten.

Auch Ego-Shooter spielen eine Rolle bei der Vorbereitung, obgleich er wohl eher Fantasy-Spiele bevorzugte: Modern Warfare 2 war wesentlicher Teil seiner Training-Simulation. B. zeigt sich fasziniert: „Man kann mehr oder wenig wirkliche Operationen komplett simulieren“. Für körperliche Fitness sorgte ein spezielles Trainingsprogramm, unterstützt durch Stereoide. Bei eBay besorgte er sich eine Distelmilch, mit der er unerwünschte Nebenwirkungen seiner Muskelaufbaupräparate abzumildern gedachte. Immer wieder auffallend: Die detailbesessene Akribie, mit der er seine geheimen Pläne verfolgte - und dass er sich durch Diskussionen mit anders denkenden Freunden nicht irritieren ließ.

Der 22. Juli
Am 22. Juli enden die Einträge des Manifests – mit der Unterschrift von „Andrew Berwick, Justiciar Knight Commander, Knights Templar Europe, Knights Templar Norway“. Der 22. Juli war wohl auch ein für den Doppelanschlag bewusst gewähltes Datum: Am 22. Juli 1099 wurde Gottfried von Bouillon nach der Eroberung Jerusalems im Ersten Kreuzzug der erste Regent des Königreichs Jerusalem. Bei der Eroberung der Stadt hatten die Kreuzfahrer nahezu die gesamte Bevölkerung Jerusalems, die vor allem aus Muslimen und Juden bestand, ermordet. Ebenfalls am 22. Juli metzelten Kreuzritter im Jahr 1209 rund 20.000 Menschen der Stadt Béziers, eine Hochburg der Katharer, nieder. Und ebenfalls am 22. Juli endete die Belagerung Belgrads durch die Osmanen mit einem Abzug. Für den selbsterwählten Kreuzritter B. war der 22. Juli mehr als nur ein symbolisches Datum. Die Vorliebe für große Symbolik scheint er ebenfalls mit Al Kaida geteilt zu haben.

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Christiane Schulzki-Haddouti

Christiane Schulzki-Haddouti berichtet seit 1996 als freie IT- und Medienjournalistin über das Leben in der Informationsgesellschaft. Wie digitale Bürgerrechte bewahrt werden können, ist ihr Hauptthema. Die europäische Perspektive ist ihr wichtig – da alle wichtigen Entscheidungen in Sachen Internet in Brüssel fallen.

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