© Jakob Steinschaden

28C3

Morozov: "Im Netz entsteht eine neue Ideologie"

Mit “Cyber-Utopisten” wie Clay Shirky und Jeff Jarvis liegt er im ständigen medialen Clinch, auf Konferenzen und Universitäten ist er viel beachteter Redner, und sein Buch “The Net Delusion” gilt als Vorzeigewerk in Sachen Technologiekritik: Der aus Weißrussland stammende und heute an der US-Universität Stanford forschende Evgeny Morozov (27) hat auf dem Hacker-Kongress 28C3 die Eröffnungsrede gehalten und vor der “Liebesaffäre” westlicher Technologiefirmen mit Diktaturen gewarnt. Diese würden autoritäre Regime über Zwischenhändler nach wie vor mit Überwachungstechnologien versorgen, weswegen einfache Verbote gegen die Ausfuhr solcher Technologien an diese Staaten nicht greifen würden.

In Ihrer 28C3-Keynote haben Sie die Ausfuhr von westlichen Überwachungstechnologien an Diktaturen aufgezeigt. Ist “Big Brother” weiter am Vormarsch?
Das ist keine neue Diskussion. Ich spreche seit Jahren über Diktaturen und Überwachungstechnologien, 2011 haben die Medien und die Politik endlich zugehört. Deswegen werden diese Technologien öffentlich stärker wahrgenommen als noch vor einem Jahr. Aber es gibt immer mehr Staaten, die nicht als Demokratien gelten, und dadurch steigt die Nachfrage nach Überwachungstechnologien. Es ist also ein Problem, das sicher schlimmer wird.

Wie könnte man dem entgegenwirken?
Es gibt Dinge, die man tun kann. Man kann globale Sanktionen gegen diese Firmen überlegen, man kann die Lobbyisten dieser Industrie überwachen, und man kann öffentlichen Druck auf die Investoren solcher Firmen machen. In Italien etwa haben es Aktivisten geschafft, dass eine Firma ihr Geschäft in Syrien aufgegeben hat. Das ist ein kleiner Fisch in einem großen Ozean, aber man kann etwas erreichen.

China etwa koppelt Ihrem Vortrag zufolge seine Wirtschaftshilfe immer stärker an die Ausfuhr eigener Überwachungstechnologien, etwa von Huawei, an Dritte-Welt-Länder. Das klingt gefährlich.
Die große Frage ist, wie stark diese Verbindung zwischen der chinesischen Außenpolitik und den chinesischen Technologie-Firmen wird. Werden sie so einen großen Einfluss haben wie etwa die British East India Company auf die Kolonien Großbritanniens? China baut immer stärker auf Energiequellen aus Afrika und ist deswegen an Stabilität in der Region interessiert.

Stichwort Afrika: Die Revolution in Nordafrika hat im Netz nicht alles zum Besten gewendet. In Libyen sind etwa neue Internet-Filter eingeführt worden, die es unter Gaddafi nicht gab. In welche Richtung werden sich die Staaten bewegen?
Ich bin kein Nordafrika-Experte, und Ägypten, Tunesien und Libyen zeigen sehr unterschiedliche politische Dynamiken. Aber es kommen eher konservative Kräfte an die Macht, die wahrscheinlich zu mehr sozialer Zensur (z.B. Filtern von pornografischen Inhalten, Anm.) tendieren.

Wie bewerten Sie die Rolle von Social-Media-Diensten im Arabischen Frühling?
Viele Facebook-Nutzer in Ägypten haben das Online-Netzwerk überbewertet. Viele der Bewegungen wurden schwach, weil sie nicht zentralisiert sind, weil sie nicht in eine organisierte Partei gemündet haben.

Wenn man Ihr Buch “The Net Delusion” liest, erhält man jedenfalls den Eindruck, dass Internet und Social-Media-Dienste nicht viel bewirken können.
Wenn sich einmal herausstellt, dass es zu 100 Prozent stimmt, dass Facebook die Revolution in Ägypten ausgelöst hat, soll es mir recht sein. In meinem Buch ging es mir weniger darum, zu argumentieren, dass Social Media keine transformative Kraft auf Politik hat, als vielmehr aufzuzeigen, dass autoritäre Staaten solche Internet-Bewegungen einzudämmen versuchen.

Wie wird sich aus dieser Sicht die Lage in Russland entwickeln?
Das ist schwer vorherzusagen, aber nur weil so viele Russen auf Facebook sind, heißt das nicht, dass sie im kommenden März bei den Präsidentenwahlen so protestieren werden wie die Ägypter.

Kann aus Bewegungen wie Anonymous, Occupy und immer populärer werdenden Piratenparteien eine neue politische Kraft entstehen?
Ja, im Internet entsteht eine neue, sonderbare Ideologie. Das Internet zeigt uns eine neue Sichtweise, wie unsere Welt funktioniert, und Bewegungen wie Anonymous wollen diese Welt neu formen. Wir werden mehr Geschichten über das Internet und politische Bewegungen lesen und hören, aber ich weiß nicht, wie lange das noch weitegehen wird. Irgendwann wird das Thema “Internet” in den Hintergrund treten, ich kann mir nicht vorstellen, dass es in zehn Jahren noch Stories über Bewegungen im Internet geben wird. Das Internet als konzeptuelle Kategorie wird verschwinden. Das ist eine sehr philosophische Frage, mit der wir uns aber intensiver beschäftigen müssen.

An der Universität Stanford arbeiten Sie bereits an einem neuen Buch. Worum wird es gehen?
Während das alte Buch sich mit autoritären Regimes beschäftigt hat, geht es im nächsten um Demokratien. Der Arbeitstitel lautet “Silicon Democracy”. Vieles davon passiert schon jetzt. Facebook hat sein “Frictionless Sharing” (automatische Erfassung von Nutzeraktivitäten, Anm.), Googles Pläne für ein personalisiertes Internet sind schon sehr weit fortgeschritten. Die “Silicon Democracy” wird jeden Tag ein bisschen mehr Realität.

Welchen Effekt hat das auf unser tägliches Leben?
Wenn man heute Musik bei Spotify hören will, braucht man einen Facebook-Account, der wiederum einen echten Namen erfordert. Regierungen werden uns nicht verfolgen, nur weil wir Death Metal hören möchten, aber trotzdem ändert das alles die Art und Weise, wie wir uns als Individuen vor einem technologischen, medialisierten Hintergrund selbst konstruieren. Das ist eine große offene Frage, und die muss noch erforscht werden.

Wie verändert das Internet heutige Demokratien?

Ich versuche zu argumentieren, dass moderne liberale Demokratien ein Quantum an Desorganisation, Reibereien und Chaos brauchen - also Dinge, die sich nicht mit Technologien vertragen. Reibereien sind gut für Demokratien, weil ansonsten bestimmte Mechanismen einrosten. Ich glaube auch, dass Politik Heuchelei braucht, Politker brauchen Raum, wo sie lügen können. Das steht im Widerspruch zur Transparenz, die Dienste wie Facebook, Google und WikiLeaks schaffen.

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