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Kultur im Wandel

Speicherprobleme: Die digitale Demenz droht

Hinterhältiger könnte die Ironie der Geschichte nicht sein: Ausgerechnet das gegenwärtige Zeitalter, in dem so viel kommuniziert wird wie nie zuvor, könnte in künftigen Geschichtsbüchern schwer zu finden sein. Denn die Digitalisierung hat das Riesenproblem mit sich gebracht, dass die Halbwertszeit von Erschaffenem ohne entsprechende technische Nachbearbeitung nur wenige Jahre beträgt. Das trifft sämtliche Kunstgenres, wie Film, Musik, aber auch Literatur.

Kunst der 70er-Jahre in Gefahr

Die 70er Jahre waren die Blütezeit der Medienkunst. Videoarbeiten, elektronische Musik und erste Computer-Kunstwerke bestimmten das zeitgenössische Schaffen - und diese Werke finden sich heute zunehmend in den Museen und Archiven. Nur: Viele davon sind heute schon gefährdet, dem Vergessen anheim zu fallen. Während Werke Alter Meister die Jahrhunderte recht unbeschadet überdauern können, erreichen beispielsweise Videokassetten rasch das Ende ihrer Lebensdauer.

"Je jünger die Technologie ist, desto fragiler ist sie. Filme auf Video haben sich zum Teil schon aufgelöst. Disketten, die noch vor wenigen Jahren verwendet wurden, sind schon obsolet", sagt Alexander Horwath. Er leitet das Österreichische Filmmuseum und ist so für die Aufbewahrung des Filmerbes zuständig - eine Aufgabe, die in Zukunft schwieriger werden wird.

Filmstudios weiterhin vorsichtig

Denn Filme entstehen - wie Musik, Literatur, Teile der bildenden Kunst - zunehmend digital. Kunst ist ein Datenstrom und muss am Leben erhalten werden. Regelmäßig müssen Filme, aber auch die digitalisierten Bücher der Österreichischen Nationalbibliothek oder die Musikbestände der Mediatheken daher auf neue Datenträger kopiert werden, bevor die alten kaputt sind. Das geht ein paar Jahre gut. Aber Jahrhunderte, oder, wie bei Papyri, Jahrtausende?

Man kennt es von der digitalen Fotosammlung am Privatrechner: Wirklich sicher vor dem Computer-Crash sind diese nur, wenn man sie auf Papier entwickeln lässt. Ähnlich defensiv agiert die Filmbranche, schildert Horwath: "Der gegenwärtige Stand in den großen Hollywoodstudios ist, dass selbst wenn digital gedreht wird, es die altmodische, archaische Technologie der 35 mm Kopie und des Filmnegativs zur Sicherung gibt. Das zeigt, wie schwierig die Situation ist ."

Formatekrieg in Archiven droht

Und damit hat die Sache noch kein Ende: Es geht nicht nur um die Aufbewahrung der Daten. Diese müssen auch verständlich bleiben. Ein Beispiel: Zwar kann eine Partitur mittelalterliche Musik bis heute bereitstellen - doch ist dies von begrenztem Nutzen, wenn es die Instrumente nicht mehr gibt, mit der diese gespielt werden kann.

Diese Gefahr potenziert sich derzeit: Es fehlen Geräte und Programme, die nur wenige Jahre alte Daten lesen können. Und in den Archiven droht ein "Formatekrieg", erläutert Horwath am Beispiel Film: "Die Regentschaft des 35 mm-Films ist vorbei. Es wird eine chaotischere Zeit kommen." Trotz der fragwürdigen Qualität jüngster Archiv-Veröffentlichungen von Michael Jackson und Falco: Dass Kultur archiviert werden muss, steht außer Frage. Ein aktueller Lösungs-Ansatz: Vielleicht hat sich die Zeit der zentralen Archive überlebt - und man muss umdenken.

Tausende Kopien vs. Urheberrecht

Denn ein Vorteil des allseits im Internet verbreiteten Kopierens von Kulturgütern ist: Es gibt tausende Kopien. So gut wie jeder Pop-Song liegt auf zahlreichen Festplatten auf der ganzen Welt. Und deren Besitzer kümmern sich aus Eigeninteresse darum, dass diese Daten bewahrt bleiben.

Doch die Idee, die Aufbewahrung der digitalen Kultur den normalen Computerbenutzern überlassen, kollidiert heftig mit dem Urheberrecht. Und auch mit einem weiteren Online-Phänomen: Kopiert wird, was aktuell und in der breiten Bevölkerung beliebt ist. So droht das erste Opfer der digitalen Amnesie die Hochkultur zu werden: Keine verlockenden Aussichten.

Web vergisst nicht

Anders sieht die Sache allerdings mit unliebsamen persönlichen Daten, Fotos und Online-Kommentaren aus. Während über wichtigen Daten das Damokles-Schwert in Form von Festplattencrash, Computer-Verlust und Virus schwebt, bleiben oftmals genau jene Daten im Netz abrufbar, die man am liebsten loswerden würde: Unliebsame Party-Fotos, Schimpforgien in Online-Foren oder Liebes-Bekenntnisse an längst verflossene Ex-Partner auf Twitter oder Facebook. Diese erweisen sich - ein mal in der Datenwolke angekommen - oftmals als unlöschbar.

Deshalb plädiert der aus Österreich stammende Oxford-Professor Viktor Mayer-Schönberger für ein Ablaufdatum von Daten. Immerhin ist das Vergessen ein essenzieller Teil der menschlichen Geschichte, schreibt er in seinem Buch "Delete". Und so flüchtig digitale Daten auch oft sind - manchmal ist es genau dann ein Schaden, wenn sie zu lange bestehen. Die Frage, was wann und durch wen gelöscht werden soll, bleibt.

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FUTUREZONE-Serie "Kultur im Wandel"

(Georg Leyrer)

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